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Eine Bühne am Meer

Christoph Ransmayr

Jahrgang I, Ausgabe 2, 2007, doi:10.33178/scenario.1.2.1
© 2007, The Author(s). This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Zusammenfassung

Der österreichische Gegenwartsautor Christoph Ransmayr führt uns an einen Ort an der der südirischen Küste, wo in wunderschöner natürlicher Umgebung unter freiem Himmel getanzt, musiziert und mit einfachsten Mitteln inszeniert wird; die aktive Teilhabe an Formen Darstellender Kunst ist dort natürlicher und integraler Bestandteil der Alltagserfahrung, befreit die Küstenbewohner von persönlicher Bürde und stärkt ihren Lebensmut.

Eine Bühne am Meer

Die Bühne, von der ich hier berichte, liegt hoch über den Klippen der südirischen Atlantikküste, an einer der unzähligen, von Felssteinmauern, Stechginster und Fuchsienhecken gesäumten Straßen, die sich zwischen den Leuchttürmen von Galley Head, in tief eingeschnittenen Buchten und felsigen Hügelketten verlieren. Eine Bühne so nahe der Brandung, daß die Schauspieler, Sänger oder Dichter, die sie jemals betraten, die Stimme manchmal erheben mußten, um das Meer zu übersingen oder einfach zu überschreien. Mein Freund Eamon aus Skibbereen, der mir auch gezeigt hat, wie man ein Boot sicher zwischen Klippen verankert, wie man Hummerkörbe auslegt und bissige Katzenhaie, die in diese Körbe geraten, daraus wieder befreit, ohne sich zu verletzen, mein Freund Eamon hat mich an einem stürmischen Februartag zu dieser meilenweit von jeder Siedlung entfernten Bühne geführt. Die Wegkreuzung, an der sie liegt, heißt im südirischen Gälisch Glaisín Álainn. Das bedeutet Schöne Weide.

Glaisín Álainn war bis in die jüngste Vergangenheit und an sechs Tagen der Woche tatsächlich nur eine Viehweide mit großem Blick aufs Meer, eine gegen die Felsenküste sanft abfallende Wiese, auf der das einsame, nun verfallende Steinhaus eines Mannes namens Liam O’Shea stand. O’Shea lebte bis zum Jahr seiner Auswanderung nach Westaustralien mit zwei Kühen, vier Hirtenhunden, einem Maultier und einer wechselnden Anzahl von Schafen auf Glaisín Álainn, brannte in einem Schacht der aufgegebenen Kupferminen an der Roaringwater Bay heimlich Poteen, Kartoffelschnaps, fuhr nach solchen Brandnächten auf seinem Maultierkarren oft schlafend über die Dörfer und konnte zur Begleitung einer Knopfharmonika in einer fast endlosen Ballade alle Namen, Jahres- und Opferzahlen von mehr als einhundert Schiffsuntergängen an der irischen Westküste singen. Mit seinen über die Woche gestreuten Besorgungsfahrten, auf denen er das Neueste aus den Dörfern und von den nahen Inseln erfuhr und weitererzählte und nebenbei Bier in Flaschen, Tabak, Karamel und andere weiterverkäufliche Genüsse nach Glaisín Álainn schaffte, schien er sich aber stets nur auf jenen einen Abend vorzubereiten, an dem sein Haus zum Schauplatz wurde, zum Theater, seine Viehweide zu einem festlichen Ort.

Denn an Sonntagabenden versammelten sich auf Glaisín Álainn Bauern, Fischer, Strandgutsammler, Torfstecher, Handwerker und das irische Personal englischer Herrenhäuser – versammelte sich ein Publikum, das zu Fuß oder bestenfalls mit dem Fahrrad auch aus stundenweit entfernten Gehöften und Weilern West Corks kam, um hier an etwas teilzunehmen, was unter weniger bescheidenen Verhältnissen und an windstilleren Orten Darstellende Kunst heißt: Getanzt wurde bei Liam O’Shea! Getanzt, gesungen, Geschichten und Balladen zur Knopfharmonika oder zur tin whistle, einer dünnen Blechflöte, vorgetragen – das alles auf einer Bühne unter freiem Himmel, die Liam O’Shea inmitten seiner Weide aus Meersand und von den Gezeitenströmungen glatt geschliffenen Steinen gemauert hatte und zu der sein Publikum einfach the platform sagte.

Auf Liam O’Sheas Plattform konnte sich an einem Sonntagabend jeder aus dem Publikum vom Zuschauer in einen umjubelten Darsteller verwandeln, konnte einer, der eben noch gerührt oder lachend bloß zugehört hatte, sich nun selber erheben, zur Harmonika oder zur Blechflöte greifen und dann unter dem Applaus verstummter Sänger und Musiker zu spielen, zu singen beginnen.

Auch wenn Wind und Brandungslärm an Musikinstrumenten nur Knopfharmonika und Blechflöten zuließen, Ziegenfelltrommeln und die uilean pipes, eine sanft und melancholisch klingende Spielart des Dudelsacks – wenn Liam O’Shea Harmonika spielte und dazu von Schiffsuntergängen und den Segnungen des Strandguts sang, von auf den Brechern tanzenden Schweinen, von Hunderten Ballen schneeweißer Baumwolle, die wie Eisschollen in der Bantry Bay trieben, von schwimmenden Teppichen aus Orangen, Kisten voll Uhren und Messingglocken und vom Glanz versunkener Silberbarren und dem Gold spanischer Fregatten, dann meinten seine Zuhörer nicht bloß eine Knopfharmonika, sondern manchmal eine Fiedel zu hören, ja selbst die irische Harfe und andere Stimmen, die im Rauschen der Wirklichkeit auf Glaisín Álainn für gewöhnlich zu leise und deshalb nicht zu gebrauchen waren.

O’Sheas steinerne Bühne hatte kein Dach, keine einzige Mauer, die vor Wind und Regen schützte, keinen Vorhang, keine Treppe. Kaum höher als das Weideland gelegen, das sie umgab, konnte ein Künstler sie einfach betreten, indem er über Stechginster und Gras hinwegstieg – und konnte mit diesem einen Schritt doch eine ganze Welt hinter sich lassen: trat in eine Melodie ein, in eine Ballade, einen Applaus oder ein Gelächter, in dem ihm sein Leben plötzlich noch einmal neu und anders erschien, verwandelt in Töne und Worte. Dadurch wurde dieses Leben zwar nicht leichter, aber zumindest erzählbar, begreifbar – und erschien in manchen Spott- und Kampfliedern sogar veränderbar.

Aus:
Christoph Ransmayr, Die Dritte Luft oder Eine Bühne am Meer.
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1997, 8-11

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