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1. Das E.T.A. Hoffmann-Fest: Literatur, Kultur, Musik
Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Musikwissenschaft haben in einem E.T.A. Hoffmann-Fest an der Wilfrid Laurier Universität in Waterloo, Ontario, Kanada, zueinander gefunden, um gemeinsam eine Brücke von Kanada nach Deutschand zu schlagen, eine Brücke, die – verlockend und tragfähig zugleich – Kanadiern den Weg ins Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts weisen sollte. Die Fakultät für Musik der Universität und die E.T.A. Hoffmann Gesellschaft in Bamberg haben diese Idee tatkräftig unterstützt.
E.T.A. Hoffmann (1776-1822) ist ein Autor der deutschen Literaturgeschichte mit dem auch Kanadier in der Regel spätestens nach dem Hinweis auf das Ballett Der Nussknacker etwas verbinden können (der Kommentar, der nötig ist, dieses „Aha“-Erlebnis auszulösen, lautet in der Regel etwa so: „E.T.A. Hoffmann war der Dichter, der das Märchen geschrieben hat, das Tschaikowski zu seinem Ballett Der Nussknacker inspiriert hat“). Hoffmanns Schaffen umfasst bekanntlich nicht nur ein literarisches, sondern auch ein musikalisches und bildnerisches Werk. Einzigartig im Kreis seiner Dichterkollegen stilisiert ihn Jacques Offenbach mehr als 50 Jahre nach Hoffmanns Tod zur Hauptfigur und zum jugendlichen Liebhaber einer Oper, die innerhalb kürzester Zeit weltberühmt werden sollte. Inzwischen hat es die germanistische Forschung auch ermöglicht, eine der leidenschaftlichsten und spannendsten Liebesbeziehungen in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte zu erzählen und ihr ein konkretes Gesicht zuzuordnen: das Gesicht Julia Marks, der Großtante des Malers und Begründers des Blauen Reiters, Franz Marc.
Im Rahmen des E.T.A. Hoffmann-Festes wurden Hoffmann und sein Werk in einem akademischen Vortrag, in einer Ausstellung, und in einem Theaterabend gefeiert. Musikwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Überlegungen standen im Vordergrund des gemeinsamen Vortrags zweier Kollegen von der Nachbaruniversität Guelph, einer Hoffmann-Spezialistin und eines Musikwissenschaftlers: „Music and the Uncanny in E.T.A. Hoffmann’s Creative and Critical Writing“. Die Ausstellung mit dem Titel „E.T.A. Hoffmann: Artist, Composer, Poet“, eine Leihgabe der E.T.A. Hoffmann- Gesellschaft in Bamberg, zeigte Porträts von Hoffmann und von anderen Personen aus seinem Lebenskreis (besonders aus seiner Bamberger Zeit), außerdem Exponate zu seiner Oper Undine, Reproduktionen von Faksimile-Drucken seiner italienischen Duettinen und Canzonetten sowie Materialien zu einer großen Zahl seiner literarischen Werke.
Herzstück des E.T.A. Hoffmann-Festes war jedoch der deutsche Theaterabend mit der dramatischen Präsentation seiner Werke und seiner Persönlichkeit: Eine szenische Darstellung dreier von ihm komponierten Duettinen für Sopran und Tenor, eine Dramatisierung seines Märchens Nussknacker und Mausekönig sowie eine authentisierte dramatische Kurzfassung von Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen.
Mit dem E.T.A. Hoffmann-Fest wurde also der Versuch unternommen, ein möglichst umfassendes und ganzheitliches Bild des Kulturphänomens Hoffmanns zu zeichnen, das Bild eines Mannes, der trotz seiner heutigen Berühmtheit als Dichter die meiste Zeit seines Lebens von dem Gedanken besessen war, als Musiker und Komponist zur Berühmtheit zu gelangen, und dessen gesamtes Fühlen und Empfinden untrennbar mit seinem Musikerleben verbunden war.
Erreicht hat das E.T.A. Hoffmann-Fest mit seiner Botschaft einen durchaus großen Kreis von Interessenten: die deutschsprachige Bevölkerung der Region, deutschlernende Schüler der High School, die eigene Universitätsgemeinde, aber auch Kollegen und Studenten der Nachbaruniversitäten. Über 200 Zuschauer kamen allein zur Theateraufführung und nach der Vorstellung fehlte es nicht an anerkennenden und enthusiastischen Kommentaren.
Der erzielte Werbeeffekt für das Fach Deutsch war also durchaus erhofft und hat sich wohl auch auf die inzwischen steigenden Einschreibezahlen für die Deutschkurse der Universität ausgewirkt.
2. Der Kurs: Pädagogik und Organisation
Die Theateraufführung wurde von Student/innen des deutschen Theaterkurses GM 320 “German Oral Expression through Drama” aus allen Jahrgangsstufen und Fachrichtungen, insbesondere auch von Student/innen aus der klassischen Gesangsausbildung der Musikfakultät gestaltet. GM 320 ist produktorientiert, das heißt, dass die dramapädagogischen Übungen und Methoden zur Vorbereitung des „Endproduktes“ Theateraufführung eingesetzt werden. Dieser Kurs kann von Student/innen nach mindestens einem Jahr Deutsch (Introductory German) belegt werden; idealerweise sollten die Student/innen allerdings zwei Jahre Deutsch absolviert haben. Er kann sowohl als Sprachkurs als auch als Kulturkurs für einen Nebenfachabschluss Deutsch (Minor) gezählt werden, die Musikstudent/inn/en belegen ihn in der Regel als Wahlkurs (elective). Im Jahr des Hoffmann-Festes nahmen 24 Student/innen an diesem Kurs teil, davon ein Sänger und vier Sängerinnen im letzten oder vorletzten Jahr ihrer Gesangsausbildung sowie ein Gast und ein deutscher Austauschstudent.
2.1. Globales Lernziel
Globales Lernziel dieses Kurses ist es, auf der Bühne des Theaters das Selbstvertrauen der Student/inn/en für ihre mündliche Sprachperformanz aufzubauen, damit sie später den Herausforderungen auf der „realen“ Bühne des Lebens leichter begegnen können. Durch die Produktorientierung des Kurses und durch den ästhetischen Anspruch der Inszenierungen wird in der Regel bei den Student/inn/en mit dem Beginn der Proben ein starker Motivationsschub bewirkt. Die abschließende Aufführung wird dann als eine Art Mutprobe empfunden, die von den meisten sehr bewusst und gern angenommen wird.
2.2. Kurskomponenten und Bewertungsschema
Das Bewertungsschema von GM 320 stellt sich folgendermaßen dar:
Assignments:
- 10 % Recording of Lines (in the Lab)
- 5 % Composition on Dramatic Character
- 15 % Vocabulary Tests (2)
Theatrical Production:
- 35 % Interpretation of Role
- 25 % Performance Preparation Management (prop production / prop management / advertisement / tutoring / choreography)
- 10 % Final Skit about the Course / Performance Experience
Die Kursbewertung spaltet sich also in zwei Bereiche auf: die zu erfüllenden Aufgaben und die Theateraufführung. Im Rahmen der zu erfüllenden Aufgaben mussten die Kursteilnehmer/innen eine phonetisch möglichst perfekte Version ihres Rollentextes im Sprachlabor aufzeichnen, zwei Vokabeltests mit Vokabeln des deutschen Grundwortschatzes aus dem Glossar des dramatischen Gesamtskripts bestreiten und an Hand von Leitfragen einen Aufsatz über ihre dramatische Rolle (200-300 Wörter) verfassen. Die Aufgabenstellung dieses Aufsatzes über die eigene Rolle ist nicht unähnlich der von Schewe beschriebenen Inszenierungstechnik „Einfühlungsfragen beantworten“ (Schewe 1998: 51). Wenn das dramatische Skript (besonders bei einer Nebenrolle) nicht ausreichende Hinweise auf die Biografie einer Figur enthielt, wurden die Kursteilnehmer/innen dazu aufgefordert, biographische Details zu erfinden (z.B. die fiktive Biografie einer Maus oder eines Spielzeugs in Nussknacker und Mausekönig), eine Technik, die selbst professionelle Theaterregisseure den Darsteller/inn/en von Nebenrollen empfehlen.1
Die Bewertung der Rolleninterpretation bezieht sich nicht ausschließlich auf die darstellerische Leistung während der Aufführung, sondern auf das Ausmaß der Rollenreflexion und der Bemühungen während des gesamten Produktionsprozesses, die Rolle überzeugend zu gestalten. Eine der wichtigsten Säulen im Vorbereitungsprozess der Aufführung ist die selbständige Arbeit in Kleingruppen. Die Kursteilnehmer/innen hatten die Wahl zwischen verschiedenen Aufgabenbereichen: die Produktion von Requisiten, das Management der Requisiten während der Vorstellung, Werbemaßnahmen, und, da sehr oft ein großes Gefälle in der Sprachkompetenz (von Grundkenntnissen bis zur fließenden Beherrschung der Sprache) oder in der Schauspielkompetenz (Bühnen-„Novizen“ gemischt mit erfahrenen Darstellern) besteht, die Arbeit als Sprach- oder Schauspiel-Tutor/in. Diese Arbeit hat sich als besonders wertvoll erwiesen: Sie stärkte sichtlich den Teamgeist und unterwarf die studentischen Leistungen in der Vorbereitungsphase dem Urteil der Tutor/innen, das manchmal strenger und kritischer ausfiel als das der Kursleiterin. Alle Tutorien wurden in Partnerarbeit unterrichtet, eine Mindeststundenzahl musste erfüllt werden (jedes Treffen wurde formal dokumentiert) und der/die Unterrichtete musste seine(n)/ihre(n) Tutor/in am Ende der Vorbereitungsphase schriftlich bewerten. In einer letzten Sitzung nach den Aufführungen wurde den Kursteilnehmer/inn/en die Möglichkeit gegeben, ihre frisch erworbenen Fähigkeiten in einem Sketch zu demonstrieren, in dem alle besonderen Vorkommnisse und Pannen innerhalb der Vorbereitungsphase oder während der Vorstellungen auf humoristische Weise verarbeitet werden sollten. Auch ein humoristischer szenischer „Gesamtkommentar“ zur Produktion wurde akzeptiert.
Die Bewertung erfolgte dann sowohl von Seiten der Kursleiterin als auch von Seiten der anderen Kursteilnehmer/innen (peer evaluation). Oftmals wurden in diesem Sketch einzelne Repliken der Gruppenmitglieder bunt gemischt und mit komischem Effekt in andere Kontexte gesetzt, sodass ein absurdes Repliken-Potpourri entstand.2
- Folgende Fragen wurden als Leitfragen für den Aufsatz über die Theaterrolle benutzt:Wie heiße ich? Hat der Name eine Bedeutung? Erfinden Sie einen Namen, wenn Sie keinen Namen haben!Bin ich weiblich oder männlich?Wie alt bin ich?Was sage ich über mich? Was sagen andere über mich? Was sage ich über andere? Wie ist meine Beziehung (relationship) zu anderen? Wie reagiere ich auf andere? Wie interagiere ich mit anderen? Wie ist mein Charakter?Wie war mein Leben vorher? Was habe ich vorher erlebt?Wie wird mein Leben weitergehen? Erfinden Sie ein kleine Geschichte, wenn nichts darüber im Text steht. Was gefällt mir/ gefällt mir nicht an dieser Rolle? Was ist mir wichtig bei ihrer Interpretation? [Back]
- Der in die Zukunft gerichtete Sketch einer Gruppe eines vorausgegangenen Theaterprojektes erschien mir besonders gelungen. Szenarium: Toronto, nach zwanzig Jahren. Die Teilnehmer/innen des deutschen Theaterkurses sind in der Psychiatrie gelandet, da sie bestimmte Repliken ihres Rollentextes nicht mehr “los werden”. Zwanghaft diese Repliken rezitierend, laufen sie unablässig im Kreis herum. [Back]
2.3. Literaturvermittlung
Nicht nur die Verbesserung der mündlichen Sprachperformanz, sondern auch Aspekte der Literatur- und Kulturvermittlung nehmen im Kurskonzept des deutschen Theaterkurses GM 320 einen wichtigen Stellenwert ein. Mit Schewe / Scott (2003: 56-58) wird die dramapädagogische Literaturvermittlung als ein viel versprechender Ansatz betrachtet, um der akuten Krise in den deutschen Literaturseminaren effektiv entgegenzuwirken (siehe auch Zimmermann 2004: 39).
Im leib-haftigen Zugang unserer literarischen Rezeption wird ja ein dramatischer Text zur be-lebten Literatur, “literature come to life” (studentischer Kommentar in Schewe / Scott 2003: 71). Die Interpretation einer Figur erhält unmittelbare Brisanz durch die Notwendigkeit, sie auf der Bühne überzeugend darstellen zu müssen. Da für die meisten Kursteilnehmer/innen bereits im Wintersemester feststand, dass sie den deutschen Theaterkurs im Herbst belegen würden, erhielten sie den Auftrag, über den Sommer die literarischen Quellen (Hoffmanns Märchen und Erzählungen in englischer Übersetzung) zu lesen und somit die Voraussetzung für eine vertiefte Kenntnis ihrer Figurenkonzeption zu erwerben.3 Die Hoffmannschen Märchen und Erzählungen sind sicherlich Texte, die auf Grund ihrer Distanz zur Lebenswirklichkeit der Student/inn/en selbst mit Hauptfachstudent/inn/en in herkömmlichen Literaturkursen heute wohl nur noch mit Schwierigkeiten gelesen werden könnten. Da sie jedoch in Hinblick auf eine konkrete dramatische Präsentation gelesen werden mussten, begegneten ihnen die Student/inn/en mit einer weitgehend erwartungsvollen und gespannten Rezeptionshaltung. Obwohl es auch später erstaunlicherweise nie viele Klagen über Probleme beim Lese- und Memorisierungsprozess des deutschen dramatischen Skripts gab, muss aber eingeräumt werden, dass die Realisierung des Projektes völlig undurchführbar gewesen wäre, wenn nicht von Kursbeginn an gleich allen eine englische Übersetzung des gesamten Skripts und ein ausführliches, von der Kursleiterin erstelltes Glossar zur Verfügung gestanden hätten. Die Sprache Hoffmanns weist schließlich einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität auf, sowohl in ihrer Lexik als auch in ihren syntaktischen Strukturen.
- Die Darstellerin der Giulietta in Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde, eine Sopranistin im dritten Jahr ihrer Gesangsausbildung, kommentierte spontan nach der Lektüre die dämonische und schillernde Natur Giuliettas im Hoffmannschen Originaltext und drückte ihre Genugtuung darüber aus, endlich eine “böse” Figur darstellen zu dürfen, nachdem sie bisher auf ein “neckisches” Rollenfach (z.B. Susanna in Mozarts Oper Figaros Hochzeit ) festgelegt war. [Back]
2.4. Kulturvermittlung
„Hands on Culture“ (siehe Zimmermann 2004: 40) lautet die Maxime für die Vermittlung von Fremdkultur im deutschen Theaterkurs. Das historische Porträt der Julia Mark, das auf die Darstellerin des Geistes der Julia Mark eine große Faszination ausübte, die zahlreichen historischen Bühnenkostüme oder auch die von Hoffmann komponierte Musik boten den Kursteilnehmer/inn/en reichliche Möglichkeiten zu solchen konkret-sinnenhaften „Kulturberührungen“. Die traditionelle Feier des Heiligen Abends im Märchen Nussknacker und Mausekönig, wie sie die Kinder Marie und Fritz zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Hause des Medizinalrats Stahlbaum erleben, das gespannte, geheimnisumwitterte Warten auf das Christkind und die glanzvolle Bescherung hat sich ja durch zwei Jahrhunderte hindurch in ihrem Ablauf in Deutschland kaum verändert und besaß daher für die Kursteilnehmer/innen großen kulturellen Anschauungswert. Die Inszenierung des heiß ersehnten Momentes der Öffnung des Weihnachtzimmers war für die Kursteilnehmer/innen jedenfalls mit viel Vergnügen verbunden.
Auch die Konzepte der dramatischen Figuren können für die Studenten von großem kulturellem Erkenntniswert sein. Hoffmanns Erzählung Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde beschreibt ein bis zur Hörigkeit gesteigertes Liebesverhältnis zwischen dem naiven, verheirateten Deutschen Erasmus Spikher und der verführerischen, dämonischen, italienischen Kurtisane Giulietta. Es handelt sich um ein faszinierendes Zeugnis deutscher Italiensehnsucht eines Dichters, der fließend Italienisch sprach und zahlreiche Italien-thematische Texte (z.B. Prinzessin Brambilla, Die Fermate) schuf, und doch in seiner Lebenswirklichkeit nie im Land seiner Sehnsucht angekommen ist. Ein solches Liebesverhältnis im interkulturellen Spannungsfeld zweier Kulturen kann ja gerade aus der kulturellen Außenperspektive, der Beobachter-Perspektive einer dritten, unbeteiligten Kultur, genauer analysiert und dargestellt werden als das vielleicht aus der Innenperspektive einer der beteiligten Kulturen möglich wäre.
Um Fragestellungen dieser Art noch zu vertiefen und womöglich zu beantworten, wäre eigentlich ein ganzes „theoretisches“ erstes Semester mit literarischen und kulturellen Textanalysen, ergänzt von einführenden dramapädagogischen Spielen und Übungen und ein gesamtes zweites Proben- und Aufführungssemester, also ein zweisemestriger (full credit) Kurs, für einen produktorientierten deutschen Theaterkurs wie GM 320 angemessen. Aus institutionellen Zwängen ist der deutsche Theaterkurs (half credit) jedoch leider auf ein 12-wöchiges Semester (3 wöchentliche Kontaktstunden: Abendkurs) beschränkt.
2.5. Proben und Aufführungsvorbereitungen
In den ersten drei Kurswochen wurde also die gesamte Kurs- und Projektorganisation erklärt und die Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach vorgestellt; die dramatischen Skripte wurden gelesen, geklärt, und analysiert sowie kulturelles Hintergrundswissen vermittelt. Es folgten dann sieben Wochen Proben im Klassenzimmer (in zwei Gruppen, die mit Hilfe unserer Praktikantin aus Deutschland parallel operieren konnten), während der elften Wochen fanden täglich vier Stunden Bühnenprobe statt und für das Wochenende der elften Woche waren schließlich eine Matinee-Vorstellung (hauptsächlich für Schüler der High Schools) und zwei Abendvorstellungen angesetzt.
Die Sitzung in der letzten, zwölften Woche war dann für die Präsentation der humoristischen Sketche über die Kurs- und Aufführungserfahrung reserviert. Einer Tradition des deutschen Theaterkurses folgend wurden in dieser letzten Sitzung auch alle Requisiten an die Kursteilnehmer/innen als Andenken verschenkt.
In die gesamte Kursarbeit eingebettet waren zahlreiche Übungen zur kontrastiven Phonetik (englisch-deutsch) und während der vorstellungsvorbereitenden Sitzungen kamen zahlreiche dramapädagogische Inszenierungsformen (z.B. Standbilder), spielerische Übungsformen des Improvisationstheaters (z.B. Assoziationskreis) sowie Übungen zur Schauspieltechnik (z.B. elementare Regeln, die Obsession der Figuren4, Gilmour-Stäbe5) zum Einsatz. Alle musikalischen Komponenten der Inszenierungen standen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt fest. Mehrere Monate vor Kursbeginn wurden Treffen sowohl mit den interessierten Gesangsstudent/inn/en als auch mit ihren Gesangsprofessor/inn/en einberufen, um sicherzustellen, dass die ausgewählten Stücke dem technischem Niveau der Gesangsstudent/inn/en entsprachen und nicht etwa ihrer Stimme schaden könnten. Die Gesangsprofessor/inn/en erklärten sich dazu bereit, die ausgewählten Stücke in ihr offizielles Übungsprogramm aufzunehmen und mit den Student/inn/en einzustudieren, sodass die Gesangsstudent/inn/en schon musikalisch gut vorbereitet zu den Kursproben kamen.
Die Kursteilnehmer/innen, die auf dem zum Kursbeginn ausgeteilten Fragebogen angegeben hatten, dass sie sich für Tanz interessierten (oder zumindest keine grundsätzliche Tanz-Verweigerungshaltung einnahmen!), studierten mit einer Tanzlehrerin und Choreographin zwei einfache Choreographien ein und zwei Darsteller/innen machten sich mit dem melodramatischen Sprechen von dramatischem Text vertraut. Der Einsatz von musikalischen und tänzerischen Elementen in den Inszenierungen übte eine merklich belebende Wirkung auf die Darsteller/innen aus und motivierte sie zu einer sicht- und hörbar gefühlsintensiveren Interpretation ihres dramatischen Textes.
- Da diese Übungen für die produktorientierte Dramapädagogik äußerst interessant und nützlich sind, aber meines Wissens bis jetzt nicht Eingang in die Literatur gefunden haben, seien sie hier an dieser Stelle kurz beschrieben. Die Obsession der Figuren (schauspielerische Gestaltung einer komischen Figur): Eine charakteristische Geste, Manieriertheit oder Manie der Figur wird erfunden und beim im Kreis gehen obsessiv wiederholt, dabei lässt man die Geste schneller und langsamer, größer und kleiner werden. Später wird diese Geste obsessiv im szenischen Spiel eingesetzt. [Back]
- Die Gilmour-Stäbe (Intensivierung des Kontaktes, Aufbau von Konflikt- oder Erotik-Spannung): Zwei Schauspieler/innen balancieren gemeinsam mit jeweils einem Finger jeder Hand zwei parallele, zwischen ihnen waagrecht in der Luft liegende Holzstäbe (Länge etwa 1 m, Durchmesser 1-2 cm). Es entsteht ein graziöser Balance-Tanz zwischen den beiden Mitspieler/inn/en. Ziel ist es, den anderen dazu zu bringen, einen der Stäbe zu verlieren, aber gleichzeitig unter allen Umständen das Spiel weiterzuführen. Die Übung wurde von dem kanadischen Schauspieler, Regisseur und Produzenten Dean Gilmour erfunden. Quelle: Acting Workshop: Theatre & Company, Kitchener-Waterloo 2005, with Kathleen Sheehy. [Back]
3. Die Theateraufführung: Skripte, Dramaturgie und Regie
Die abendfüllende Theateraufführung des E.T.A. Hoffmann Festes bestand aus drei kleinen in sich geschlossenen Inszenierungen, die Hoffmanns Werke mit seiner Biografie, insbesondere mit der Geschichte seiner großen Liebe in Beziehung setzten. Mit seinen Duettini Italiani wurde eine musikalische Rarität präsentiert, deren Entstehungsgeschichte bis zum heutigen Tag noch eine starke Faszination auf ihre Zuhörer auszuüben vermag. Mit den Inszenierungen von Nussknacker und Mausekönig und Hoffmanns Erzählungen wurde der Versuch unternommen, zwei weltberühmt gewordene Verarbeitungen Hoffmannscher Texte, Tschaikowskis Ballett und Offenbachs Oper, auf die originalen Textvorlagen zurückzuführen. Hierfür wurden von der Kursleiterin dramatische Skripte geschaffen, die ausschließlich aus authentischem Textmaterial zusammengesetzt waren. Im folgenden sollen hier in Kürze die Überlegungen dargelegt werden, die zur Entwicklung der Skripte, der Dramaturgie und der Regie geführt haben. Um Entscheidungen bei der Konzepterstellung besser begründen zu können, ist es unerlässlich, auf Hoffmanns Biografie sowie auch zuweilen auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen einzugehen.
3.1. Duettini Italiani: Die Vorstellung einer musikalischen Rarität
Biografischer Hintergrund
Im Jahre 1806, mit dem Sieg Napoleons und der französischen Besetzung Preußens, verliert der Jurist E.T.A. Hoffmann seine Stelle als preußischer Regierungsrat in Warschau. Hoffmann, der bereits viele Jahre komponiert, schreibt und zeichnet, beschließt, seine künstlerischen Neigungen zu seinem Hauptberuf zu machen und tritt 1808 eine Stelle als Musikdirektor am Bamberger Theater an (siehe im folgenden: Lewandowski 1995: 118-137; 2003: 23-31; Safranski 2005: 243-253 )
Sehr bald gibt es jedoch Probleme mit der Leitung des Orchesters und Hoffmann verliert seine Stelle als Musikdirektor. Um für sich und für seine polnische Ehefrau Michalina den Lebensunterhalt zu sichern, gibt er den Kindern der höheren Bamberger Gesellschaft Musikunterricht, eine oft qualvolle Aufgabe, wie er sie in seinem satirischen Text Johannes Kreislers musikalische Leiden (Hoffmann 2000: 5-14) beschrieben hat.
Eine seiner Schülerinnen, die er im Gesang und im Klavierspiel unterrichtet, ist jedoch hochbegabt: Julia Mark aus der bekannten und angesehenen jüdischen Bamberger Familie Mark (die Schreibung des Familiennamens variiert), Nichte des kunstsinnigen Arztes und Mitbegründers der modernen Psychiatrie, Dr. Friedrich Markus und Schwester von Franz Marcs Großvater Moritz Marc. Hoffmann verliebt sich ebenso leidenschaftlich wie unglücklich in die heranwachsende Julia. Das Julia-Erlebnis wird ihn für den Rest seines gesamten zukünftigen Lebens nicht mehr verlassen. In literarischer Sublimierung und Idealisierung ist sie in zahlreichen Frauenfiguren seines Werkes für die Nachwelt lebendig geblieben. Und für Julia schreibt er seine Italienischen Duettinen und Canzonetten für Sopran und Tenor, die er bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihr vorträgt. Im gemeinsamen, überwältigenden Musikerleben erfüllt sich seine Liebe zu Julia – doch ist dies wohl die einzige Form, in der sich diese Liebe erfüllen konnte. Zeuge seiner Leidenschaft ist sein Tagebuch:
Der Eintrag vom 4. Januar 1812 lautet:
[...] Conzert/ Duett mit Kth [ = Julia Mark] ges[ungen] [ ... ] exaltatione grandissima (Hoffmann 1971: 130-131)
Nach dem Duett mit Julia sieht sich Hoffmann also in einen Zustand der höchsten Exaltation versetzt, eine Exaltation, die ihm zur Urquelle seines kreativen Schaffens werden sollte. Doch es ist ihm nicht vergönnt, Julia für lange Zeit nahe zu sein. Im Dezember 1812 muss der verheiratete, sechsunddreißigjährige, fast mittellose entlassene Kapellmeister Ernst Theodor Amadeus Hoffmann tatenlos mit ansehen, wie die sechzehn Jahre alte Julia an den zwar wohlhabenden, doch in Hoffmanns Augen nichtswürdigen Lüstling Gerhard Graepel verheiratet wird und unmittelbar nach der Hochzeit nach Hamburg abreisen muss. An die Abschiedsstunde erinnert sich Julia 25 Jahre später in einem Brief:
Ich sprach ihn ungestört allein, zum letzten Mal fürs ganze Leben. Und wäre mir jede frühere Erinnerung entschwunden, diese Stunde könnte ich niemals vergessen. Sie reicht über die Grenze meines irdischen Daseins. (Lewandowski 1997: Südwestfunk, 25. 1. 1997: 21-23 Uhr).
Im Jahre 1819 sind die Duettini Italiani im Druck erschienen.6
- Siehe: E.T.A. Hoffmann Chamber Music, Südwestrundfunk Baden-Baden/cpo 999 309-2. (CD) Im Druck sind sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Die Erstausgabe von 1819 ist im Bamberger Zweig der Bayerischen Staatsbibliothek untergebracht und wird von der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft betreut; in der Bayerischen Staatsbibliothek in München befindet sich in den Archiven eine Kopie auf Mikrofilm. [Back]
- Erst vor einigen Jahren wurde nach Angaben der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft Bamberg das Porträt wieder entdeckt, das Moritz Mark von seiner 16-jährigen Schwester Julia (zusammen mit ihrer gemeinsamen Schwester Wilhelmine) angefertigt hat. [Back]
Vermittlung des biografischen Hintergrundes
Wie kann das kanadische fremdkulturelle Publikum nun möglichst effektiv und mühelos (man ist schließlich zu einem Theaterabend gekommen, nicht zu einem akademischen Vortrag) über den biografischen Hintergrund informiert werden, der die Rezeption der Duettinen so unendlich bereichern könnte?
Für die Informationsvermittlung haben sich Power-Point-Folien, die im Bühnenhintergrund auf eine riesige Leinwand projiziert werden, als äußerst hilfreich erwiesen. In Schwarz-Weiß-Optik (weiße Schrift auf schwarzen Hintergrund) wird kurz auf das Entstehungsjahr und auf die Liebe Hoffmanns zu Julia hingewiesen. Es folgt ein Zitat aus dem Tagebuch: „Ganz krank vor Liebe und Wahnsinn“ (29. Juni 1812) (Hoffmann 1971: 162). Zum besseren Textverständnis erscheinen auch jeweils simultan zum musikalisch/szenischen Vortrag die englischen Übersetzungen der Duettinen-Texte auf Folie.
Vermittlung des emotionalen Gehalts, szenische Umsetzung und Interpretation
Für jede der drei ausgewählten Duettinen (die jeweilige Anfangszeile ist zur besseren Unterscheidung hinzugefügt) sollen die dramaturgischen Lösungen kurz skizziert werden. Die beiden Liebenden werden durch Tenor und Sopran personifiziert – Hoffmann hatte natürlich Julia Mark und sich selbst als ideale Vortragende intendiert.
Duettino 3 (”Vicino a quel ciglio“) thematisiert das Glücksgefühl und die Zufriedenheit der Liebenden beim Anblick des/der Geliebten. Die zwei Liebenden stehen Rücken an Rücken und blicken, in Selbstzufriedenheit versunken, in große Spiegel, die ihnen von „Hoffmannschen Elfen“ (Elfen wie dem Hoffmannschen Werk entstiegen) vorgehalten werden. Plötzlich gewahren sie den jeweils anderen – sie drehen sich zueinander um, finden sich als Liebende und nun ist der eine des anderen Spiegel (spiegelbildliche Gestik). Auf der Power-Point-Folie ist das Bildnis Julia Marks in Schwarz-Weiß Optik neben dem englischen Duettinen-Text abgebildet.
Duettino 4 (“Viver non potro mai lungi da te, mio bene”) spricht die Unmöglichkeit aus, ohne den anderen zu leben. Werden die Ketten der Liebe nicht gelöst, so bleibt nur der Liebestod an der Seite des/der Geliebten. Wie sein Tagebuch belegt, hat Hoffmann tatsächlich in seinen dunkelsten Stunden den Liebestod mit Julia in Erwägung gezogen, besonders auf die Nachricht von Kleists Selbstmord mit Henriette Vogel hin. Um die schicksalhafte Verkettung der Liebenden zu symbolisieren und dem Publikum einleuchtend vor Augen zu führen, wurde eine textuelle Anleihe aus dem Sommernachtstraum der Duettine vorangestellt – die enge Bindung der Romantiker an Shakespeare legitimiert wohl dieses dramaturgische Verfahren. Eine der Hoffmannschen Elfen tritt mit einer großen Blume auf und bewirkt mit Oberons Worten „Flower of this purple dye/ Hit with Cupid’s archery/ Sink in apple of his eye […]“ (III.2, 102-109) einen Liebeszauber bei dem schlafenden jungen Mann. Als das junge Mädchen auf ihn zutritt, und er sie erblickt, ist er unlösbar mit ihr verbunden. Sie wandern Hand in Hand umher, dann setzen sie sich nieder, die Elfe umkreist sie und umwindet sie mit einem Schleier, und als sie schließlich im gemeinsamen Liebestod zur Erde sinken, wird der Schleier zum Grabtuch, mit dem die Elfe die Liebenden bedeckt.
Thema der Duettine 6 (”A che mi manca l’anima“), der dramatischsten der Duettinen, ist der Trennungsschmerz der Liebenden. Szenisch folgt die Darstellung der stark kontrastiven Struktur in der Musik: In lyrischen Passagen bewegen sich die Liebenden, wie magnetisch voneinander angezogen, aufeinander zu, bis die Notwendigkeit der Trennung sie in einem dramatischen Umschwung wieder auseinander treibt. Die Hoffmannschen Elfen versuchen, die Liebenden immer wieder sanft in die Richtung des/der Geliebten zu dirigieren, bis der endgültige Abschied sie für immer trennt. Die Elfen werfen sich in Verzweiflung auf die Erde.
Unmittelbar nach dem Vortrag der Duettinen wird auf Folie lakonisch von Julias Verheiratung und Abschied berichtet, gefolgt von Julias 25 Jahre später von ihr aufgezeichneten Worten, dass der Abschied von Hoffmann vor ihrer Heirat „über die Grenze ihres irdischen Daseins reiche“ (Lewandowski 1997: Radiosendung: Südwestfunk, 25. 1. 1997: 21-23 Uhr).
3.2. Nussknacker und Mausekönig: Das Original zum allseits bekannten Ballett
Im gleichen Maße wie Tschaikowskis Ballett Der Nussknacker an Weltruhm gewann, ist der Stoff des Balletts, Hoffmanns Märchen Nussknacker und Mausekönig, langsam für viele in Vergessenheit geraten. Für das Ballettlibretto ist Hoffmanns Märchen für Tschaikowskis Zwecke stark bearbeitet und verändert worden. Nicht die Interpretation der vielschichtigen Handlung steht im Vordergrund, sondern anrührende Weihnachtsseligkeit und phantasievoller Märchenzauber sollen als stimmungsvoller Rahmen dazu dienen, die Virtuosität der Tänzer möglichst wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen.
Was die Nussknacker-Handlung betrifft, so ging es nicht um eine möglichst originalgetreue Übertragung der literarischen Vorlage, sondern in erster Linie mussten die dramaturgischen Prinzipien des russischen Balletts am Ende des 19. Jahrhundert beachtet werden (Kieser/Schneider 2006: 319).
Ziel der Nussknacker-Inszenierung war es also, das Publikum mit dem ihm wohl unbekannten, originalen Hoffmannschen Märchen bekannt zu machen.
Die kindliche Rezeptionshaltung
Um die Instanz des Erzählers dramatisch zu motivieren, wurde ein neuer narrativer Rahmen geschaffen und dem Hoffmannschen Text hinzugefügt (auch bei Hoffmann selbst ist ja das Märchen in einen narrativen Rahmen, in die Erzählrunde der Serapionsbrüder, eingebunden): Eine moderne Mutter liest vor dem Zubettgehen ihrer kleinen Tochter, der modernen Marie, das Märchen vom Nussknacker und Mausekönig vor. Diese Konstellation erlaubt es, dramatisch darzustellen, wie ein kleines Kind beim Vorlesen besonders spannender Stellen immer wieder in seiner Phantasie in das Märchengeschehen hineingezogen wird. Zum Beispiel gesellt sich die moderne Marie zu den Mitgliedern der Familie Stahlbaum beim Tanz um den Weihnachtsbaum, sie feuert den Nussknacker und die Spielzeuge im Kampf gegen die Mäuse an oder sie lässt den silbernen Schwan auf dem Rosensee schwimmen. Dieses Verfahren hat sich dramaturgisch als höchst wirkungsvoll erwiesen – spiegelt es doch die typisch kindliche, involvierte und sich mit dem Geschehen identifizierende Rezeptionshaltung konkret visuell wider. Unterstützt wurde die dramatische Präsentation der kindlichen Perspektive durch das Bühnenbild, das aus Power-Point-Folien mit Bildern bestand, die von einem fünf- und einem neunjährigen Kind gemalt wurden. (z.B. der siebenköpfige Mausekönig, der Christbaum, das Christkind, die Kandiswiese, das Marzipanschloss).
Ein dramaturgisches Problem und seine Lösung
Im Ballettlibretto wird der Fluch bereits durch Maries Eingreifen in die Schlacht gegen die Mäuse gebrochen – sie wirft ihren Pantoffel, um den vom Mausekönig bedrängten Nussknacker zu retten – und es erfolgt unmittelbar darauf die Metamorphose vom Nussknacker zum Prinzen. Bei Hoffmann agiert dagegen der Nussknacker den gesamten Verlauf des Märchens hindurch in seiner Gestalt als Nussknacker. Als Nussknacker erscheint er Marie zu nächtlicher Stunde und als Nussknacker führt er sie in sein Puppenreich und zu seiner Schwester auf das Marzipanschloss.
Da im Märchen die Ebene von Maries Realität (die sie mit den Erwachsenen der Familie Stahlbaum teilt) permanent mit der Ebene ihrer Phantasie- und Traumwelt abwechselt, muss natürlich auch der Nussknacker auf der Bühne zwischen hölzerner Figur (Requisit) und menschlich agierender Figur hin- und herpendeln. Dieses dramaturgische Problem wurde dadurch improvisatorisch gelöst, dass die Darstellerin des Nussknackers sich schon vor Szenenbeginn unter einem großen runden Tisch mit zum Boden reichender Tischdecke verborgen hatte. Der Übergang wurde dann mit einem Blackout und in der Schlacht-Choreographie zusätzlich mit einem mächtigen Donner eingeleitet, währenddessen die Nussknacker-Darstellerin die Nussknackerfigur unter dem Tisch verschwinden ließ und sich selbst auf der Bühne postierte. Für die abschließende Metamorphose des Nussknackers zum jungen hübschen Neffen des Paten Drosselmeier wurde auf der Hinterbühne schnell der lange graue Bart abgenommen.
Die Musik zum Märchen
War es auch das Hauptziel, das literarische Original des Nussknacker-Stoffes vorzustellen, so wurde doch auf Tschaikowskis geniale Musik für die Aufführung nicht verzichtet. Die ausgewählten Stücke wurden allerdings nicht immer dem im Ballettlibretto dafür vorgesehenen Geschehen zugeordnet: Nach dem aufgeregten Auspacken der Geschenke ließ Marie ihre Puppe Mamsell Klärchen und ihren Bären ein Menuett miteinander tanzen, das dann in den Galopp aller Familienmitglieder durch das Weihnachtszimmer überging (Kindergalopp und Auftritt der Eltern). Die choreographierte Schlacht zwischen den Spielzeugen und den Mäusen wurde auf den rhythmisch markanten populären Nussknacker-Marsch getanzt (und nicht auf die eigentliche musikalische Schlachtbeschreibung), die gesamte Erzählung von Nussknackers und Maries Reise durch das Puppenreich melodramatisch stimmungsvoll mit der Weihnachtswald-Musik unterlegt, und die abschließende Choreographie auf Schlusswalzer und Apotheose versammelte alle Mitspieler noch einmal zu einem fröhlichen Finale auf der Bühne.
3.3. Hoffmanns Erzählungen: Die Authentisierung einer Oper
Der Schriftsteller und E T.A. Hoffmann-Kenner Franz Fühmann hat nichts Gutes über Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen zu sagen „Eine alberne Operette“ nennt er sie, deren „ Musik zum Nachträllern einlädt“ (Fühmann 1979: 41). „Phantastische Oper in fünf Akten“ heißt die offizielle Bezeichnung. „Das Unerträgliche der Operette” bestehe, so Fühmann weiter, “in ihrem platten Eindeutigsein, und zwar unfehlbar immer im Läppischsten” (Fühmann 1979: 49). Dagegen die Beurteilung in The New Grove Dictionary of Opera: “[…] without music of real strength and invention the opera would not have survived […] to become one of the most popular of all French operas“ (Lamb 1992: 655), und Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters lobt Offenbachs „ingeniöse melodische Erfindung“ sowie die „gestische Präsenz der Musik“ (Didion 1991: 576). Eine Schwäche der Oper Hoffmanns Erzählungen wäre also sicherlich nicht in ihrer musikalischen Konzeption zu suchen, sondern möglicherweise in ihrem Libretto. Eine engere aufführungspraktische Anbindung an Hoffmanns Originaltexte wäre also aus rezeptionsästhetischer Sicht interessant und reizvoll, wenn auch eingeräumt werden muss, dass zur Bewertung des Genre „Opernlibretto“ noch andere als rein literarische Qualitäten erwogen werden sollten.
Das Opernlibretto
In der Rahmenhandlung des Opernlibrettos wird berichtet, wie die Figur des Dichters Hoffmann (Rollenfach: Jugendlicher Heldentenor), die in Wirklichkeit recht wenig mit der historischen Gestalt E.T.A. Hoffmanns gemeinsam hat, in Erwartung seiner großen Liebe, der gefeierten Opernsängerin Stella, in seiner Lieblings-Weinschenke Lutter und Wegener in Berlin (dieses Detail ist historisch korrekt) zu trinken beginnt, und, von den Studenten dazu ermuntert, in drei langen Erzählungen die drei unglücklichen Lieben seines Lebens, Olympia, Antonia und Giulietta, in seiner Erinnerung heraufbeschwört.
Diese drei Binnen-Erzählungen der Oper gehen bekanntlich auf drei berühmte Erzählungen Hoffmanns zurück, die im Opernlibretto jedoch in vielerlei Hinsicht starken Veränderungen unterworfen wurden:
- Olympia: Der Sandmann (aus Nachtstücke, 1816)
- Antonia: Rat Krespel (aus Serapionsbrüder, 1818)
- Giulietta: Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde (aus der Erzählung Die Abenteuer der Sylvesternacht: aus Fantasiestücke in Callots Manier, 1815).
Als Stella schließlich erscheint, findet sie Hoffmann völlig betrunken vor. Sie wendet sich hierauf ganz Hoffmanns Rivalen zu. Die Muse, die ihn als Student Niklaus auf seinen Liebes-Abenteuern begleitet hat, verwandelt sich zurück in ihre ursprüngliche Gestalt und fordert Hoffmann dazu auf, sich künftig einzig ihrem Dienst zu weihen.
Synthese
In unserer Inszenierung von Hoffmanns Erzählungen wurde versucht, durch eine Authentisierung des Opernlibrettos eine dramaturgische Synthese zu schaffen: Die Idee einer Rahmenhandlung, die Auswahl der Binnen-Erzählungen sowie drei Arien (Lied der Olympia, Duett Antonia-Hoffmann, Barkarole Giulietta-Niklaus) wurden aus der Oper übernommen, das dramatische Skript wurde jedoch von der Kursleiterin ausschließlich aus von Hoffmanns selbst verfassten Texten (Tagebuch, literarische Texte) zusammengestellt. Aber auch Hoffmanns eigene Kammermusik wurde in die Dramaturgie eingebaut. Sie wurde der Stimme des Erzählers Hoffmann unterlegt (Klaviertrio), oder als emotionaler und atmosphärischer Stimmungsträger in der Schluss-Szene (Harfenquintett) eingesetzt.8 Eine Unverträglichkeit der musikalischen Stile (immerhin liegen zwischen Hoffmanns und Offenbachs Kompositionen mehr als 60 Jahre) ist dabei erstaunlicherweise nicht festzustellen – eher ein melodiöses Harmonieren, da das Werk beider Komponisten tief in Mozart verwurzelt ist.
Authentisierung der Rahmenhandlung: historisch-biografischer Bezug
In unserer Inszenierung von Hoffmanns Erzählungen wird der kreative Schaffensprozess an den drei Binnen-Erzählungen nicht durch die Liebe zu einer fiktiven Gestalt, zur Sängerin Stella, sondern durch die historische Gestalt Julia Marks ausgelöst. Als Zeugen dieser verzehrenden Liebe werden Hoffmanns Tagebücher aufgerufen. Der Geist Julia Marks tritt in ihrer mädchenhaften Gestalt auf und entwendet dem vor Liebesschmerz hingesunkenen und vom Wein überwältigten Hoffmann sein Tagebuch, um sichtlich bewegt darin zu blättern und die ihre Liebe betreffenden Einträge zu lesen. Als er erwacht, hat ihn die Erinnerung an Julia, besonders die Erinnerung an das gemeinsame Singen seiner von ihm komponierten Duettinen („exaltatione grandissima“) dazu inspiriert, seine drei Erzählungen über Olympia, Antonia und Giulietta niederzuschreiben. Doch seine Seele leidet noch immer an der Qual seines Liebesverlustes: Der Geist Julia Marks tritt erneut auf und verbindet Hoffmanns Augen mit einem schwarzen Tuch. Julia und die drei Frauenfiguren zerren Hoffmann in alle Richtungen, bis er erschöpft auf die Knie fällt – das Bild einer Exekution wird evoziert. Doch wie im Opernlibretto der Offenbachschen Oper erscheint die Muse, sie vertreibt Julia und die ihn quälenden Frauenfiguren und führt ihn zurück zu seiner Bestimmung, dem Schreiben. Sie drückt ihm die Feder in die Hand und blickt ihm fürsorglich über die Schulter, als er zu schreiben beginnt.
Authentisierung der Figuren: Literarischer Bezug
Im Opernlibretto sind die drei jugendlichen Liebhaber der drei Hoffmannschen Binnen-Erzählungen pauschal durch die Figur Hoffmanns selbst ersetzt. Nicht Nathanael, der junge Komponist und Erasmus Spikher leiden an ihren Lieben, sondern der Dichter selbst, der in allen drei Rollen agiert. Obwohl die drei jugendlichen Liebhaber ja zuweilen durchaus autobiografische Züge Hoffmanns tragen, löst ihre direkte Gleichsetzung mit dem Autor ein gewisses Unbehagen aus, und wohl nicht nur bei am literarischen Kommunikationsmodell geschulten Germanisten und Literaturwissenschaftlern. In unserer Inszenierung werden daher vor jeder Binnen-Erzählung die Figuren der jungen Liebhaber aus der Phantasie des Dichters geschaffen, und als Alter Ego von diesem in die Fiktion gestoßen oder katapultiert (durch die Zentrifugalkraft des immer schneller werdenden Rücken-an-Rücken-Drehens oder durch das Berühren des Zeigefingers nach dem Vorbild von Michelangelos Fresko der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle).
In der Oper sind natürlich die Komplexität und die Tiefendimension der Figuren vor allem in der Musik angelegt, doch werden, besonders im 19. Jahrhundert, die Sänger oft schon durch ihre Stimmlage auf ganz bestimmte Rollenfächer festgelegt, denen die Zuschauer automatisch Figurenstereotype zuordnen und bereits ganz bestimmte Erwartungshaltungen entgegenbringen. Die Figuren aus Hoffmanns literarischen Texten sind dagegen in ihrer Konzeption durchgehend „mehrdimensionaler” und gleichzeitig “offener” (Pfister 1977: 243-257), also enigmatischer angelegt als ihre Pendants in der Oper. “Diese Unbestimmtheit, dieses Offensein mehrerer Möglichkeiten gehört zum Einzigartigen von Hoffmanns Kunst”, heißt es bei Fühmann (1979: 49).
Als Beispiel soll uns die Figur Rat Krespels dienen. Rat Krespel, in der Oper ganz auf die eindimensionale Figur des besorgten Vaters reduziert, ist auf Grund seiner Mehrdimensionalität und Offenheit eine der faszinierendsten Gestalten des Hoffmannschen Werkes. Mit faustischem Drang zerlegt er die Geigen alter Meister in ihre Bestandteile, um ihre innere Struktur zu erforschen. Selber ein Violinvirtuose schmerzt ihn die lebensbedrohende Krankheit seiner Tochter aufs Tiefste, die ihr das Singen zur Unmöglichkeit macht.
Antonia sieht sich in der Oper vor die Entscheidung gestellt, zwischen dem Ruhm als glanzvolle Sängerin und der bürgerlichen Ehe mit Hoffmann zu wählen. In der Erzählung Rat Krespel stellt sich die Entscheidung so nicht. Musik und Liebe werden bei Hoffmann nicht getrennt, wir erinnern uns noch einmal an seine „exaltatione grandissima“ nach einem Duett mit Julia in seinem Tagebucheintrag vom 4. Januar 1812 (Hoffmann 1971: 130-131). Antonias Geliebter ist ein junger Komponist, der sie zu einer großen Karriere als Sängerin ermutigen möchte. Um ihr Leben zu schützen, überredet Krespel sie, den Geliebten und das Singen aufzugeben, und verdrängt seine Sehnsucht, seine Tochter in Musik und Liebe vollendet zu sehen. Eines Nachts vermeint er jedoch, den jungen Komponisten mit Antonia zu hören. Er will aufstehen, doch kann er sich nicht bewegen. Während er Antonia ein “tief ergreifendes Lied” singen hört, die Liebenden sich umschlungen halten und sich anschauen voll “seligem Entzücken”, befindet sich Krespel in einem “unbegreiflichen Zustand”, eine “entsetzliche Angst” hat sich mit “nie gefühlter Wonne” gepaart (Hoffmann 1964: 30). Dieser Augenblick höchster Vollkommenheit in der Musik und in der Liebe muss jedoch an seiner Unvereinbarkeit mit der Lebensrealität – wie in Hoffmanns eigener Biografie – zerbrechen: „Er sprang in Antoniens Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefaltet, als schliefe sie und träumte von Himmelswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot.” (Hoffmann 1964: 30)
Die Offenheit und Vielschichtigkeit des Textes haben es uns erlaubt, das nächtliche Geschehen tiefenpsychologisch zu deuten und als eine Traumvision Krespels darzustellen, in der sich sein ins Unterbewusste verdrängter Wunsch für einen kurzen wunderbaren unwiederbringlichen Augenblick erfüllt hat – „exaltatione grandissima“!
4. Schlussbemerkung
Dieser Bericht über die Theaterinszenierungen des E.T.A. Hoffmann-Festes möchte Mut machen zu einem produktorientierten, dramapädagogischen, fremdsprachlichen Deutschunterricht, dessen Produkt durchaus auch effektiv zur Werbung für das Fach Deutsch eingesetzt werden kann.
Bei der Konzeption der Theateraufführung hat es sich von Vorteil erwiesen, von einer komplexen Gesamtproduktion eines deutschen Dramas oder von einem unverbundenen Szenen-Potpourri aus verschiedenen Dramen abzusehen und stattdessen einen thematischen Rahmen zu schaffen, in dem verschiedene, abwechslungsreiche Einzelteile sich harmonisch zu einem Gesamtkonzept fügen können.
Um möglichst viele Zuschauer anzuziehen, ist es sinnvoll von einem bekannten Thema auszugehen, um es dann in einem neuen und interessanten Licht literarisch und musikalisch in Szene zu setzen.
E.T.A. Hoffmann hat sich bei Kursteilnehmern/innen, Kursleiterin und Publikum jedenfalls sehr dramatisch ins Gedächtnis eingeschrieben. Mit Nixen, Meerjungfrauen, Wassermännern und ihrem Verhältnis zum Landbewohner Mensch wird es beim nächsten deutschen Theater-Projekt weitergehen.
Bibliographie
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