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1. Barock und Gegenwart?
„All the world’s a stage“, sagte Shakespeare um 1600. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht was er damit im elisabethanischen England meinte und was es für unsere Welt heute heiβen könnte? Sah er etwa bereits am Beginn der Neuzeit eine unaufhaltsame Verflüchtigung des Realen in den Simulakren der Theaterästhetik am Werk? Darin ähnlich einer totalisierten Simulationswirklichkeit wie sie in apokalyptischen Gegenwartsdiagnosen für die poröse Welt der Postmoderne ebenso kennzeichnend wie unwiderrufbar sein soll? Oder können wir mit Shakespeare und seit dem Barockzeitalter unsere individuellen und sozialen Lebenswelten mit ihren Inszenierungsformen inmitten einer Mediengesellschaft nur besser verstehen lernen, indem wir ihre Realitätsansprüche in Analogie zur bühnenästhetischen Illusion dekonstruieren? Die pompöse Repräsentation des Adels einerseits, die reflexive Verunsicherung der subjektivierten Existenz im 17. Jahrhundert andrerseits legen eine solche Diachronie von theater-, medien- und gesellschaftsgeschichtlichen Überlegungen nahe.
Auch aus dem Spanien des Siglo de oro verbreitete sich die Rede vom El gran teatro del mundo (Calderón de la Barca) und wurde zur Signatur einer ganzen Epoche. Die allegorische Theatralität des großen Welttheaters verwies die irdische Wirklichkeit ins Gleichnishafte eines Traums. Dem entspricht in der heutigen Wissensgesellschaft in etwa das Gefühl des Unwirklichwerdens der eigenen Lebenswirklichkeit. Dieses ungute Gefühl scheint sich weder trotz, noch wegen einer umgreifenden Ästhetisierung einzustellen. Diese bezeugt gegenwärtig ebenso die Einlösung wie das Scheitern der modernen Avantgarden, deren Überbietungsleerlauf die Ansprüche des Neuen und die Visionen des Anderen in eine ästhetisierte Selbstaufhebung verkehrt hat.
In deutschen Landen schrieb man im inszenierungsbewussten Barockzeitalter über das Theatrum vitae humanae (Theodor Zwinger) oder gar über das Magnum theatrum vitae humanae (Lorenz Beyerlinck). Im szenischen Glanz höfischer Festlichkeit spiegelte sich ein melancholisches Wissen um die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Das mimische Rollenspiel wurde zum Abbild eitlen Daseins, die Bühne zum Sinnbild einer diesseitigen Welt. Während sich deren neuzeitlich forcierte Umbrüchigkeit als heillose Scheinhaftigkeit darstellte, zeigte sich allein dem imaginierten Blick eines jenseitigen Regisseurs noch eine göttliche Ordnung der Dinge.
Für das europäische Barock war das Theater also eine Art wissensmelancholisches Szenarium, in welchem das Treiben der Menschen auf dieser Erde, die Zufälle des Lebens und die Unausweichlichkeit des Schicksals koinzidieren. Die ganze Welt in ihrem Glanz und Schrecken, ebenso wie die menschliche Existenz in ihrem Streben nach Glück sowie in ihrem Wissen um Vergänglichkeit und Tod – alles das war Theater, auf dem Theater, wurde durch das Theater vermittelt, verstanden und wohl auch leichter ertragen.
Im Goldenen Zeitalter des europäischen Theaters diente dieses qua Analogie als Schauplatz des kulturellen Wissens. Dessen öffentliche Inszenierung bedeutete den Versuch eines gemeinsamen Vollzugs des Verstehens dieses Wissens. In der Frühen Neuzeit insgesamt beherrschte das Groβe Welttheater die Vorstellung nicht nur von dem, was für jedermann sichtbar auf der Bühne geschah und also gespielt wurde, sondern auch von demjenigen, was im Kopf des Einzelnen vor sich ging und also wirklich gedacht, gefühlt oder gewusst wurde.
In den drei- bis vierhundert Jahren, die seither vergangen sind, hat sich nicht nur die Reichweite der Theatermetaphorik verringert, sondern auch die Bedeutung des Theaters selbst. Die Rollen, die ihm im gesellschaftlichen Leben und Entwicklungsprozess, in der kulturellen Traditionsbewahrung und Selbstvergewisserung heute noch zukommen, sind weltweit und auch in Europa sehr unterschiedlich.
2. Nationalgeschichte und Bildungsauftrag
Im heutigen Deutschland, wovon im Folgenden allein die Rede sein soll, spielt das Theater für das traditionsbewusste Selbstbild im Sinne einer Kulturnation immer noch eine vergleichsweise groβe Rolle. Dies lässt sich zum einen auf der Ebene des kulturellen Systems, also der institutionellen Einbindung, öffentlichen Finanzierung und rechtlichen Organisation ablesen. Zum anderen kann dies auf der Ebene der kulturellen Bedeutung des Theaters beobachtet werden, das heißt unter den Aspekten und Funktionen der künstlerischen Reflexion im Verhältnis zur gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung. Diese beiden Ebenen haben sich bis in die jüngste Gegenwart wechselseitig stabilisiert. Sie sind erst in eine soziale Schieflage geraten durch die Verschiebung des kulturellen Gewichtes weg vom bürgerlichen Bildungsideal hin zum quotenorientierten Massenkonsum.
Die Herausbildung eines Bildungsbürgertums zum Hauptträger der kulturellen Produktion im 18. Jahrhundert, vor allem aber die ideelle Überhöhung des Ästhetischen darin, geht auf spezifische Entwicklungsmomente der deutschen Aufklärung zurück. In ihr sollte ausgerechnet das Theater, welches seinerzeit zwischen den Hanswurstiaden der Volksbelustigung und der zeremoniellen Verspieltheit des Adelsvergnügens changierte, zum Instrument bürgerlicher Emanzipation umfunktioniert werden. In einer neuen, der höfischen entgegen gesetzten, städtischen Öffentlichkeit erhielt die Bühne – als moralische Anstalt betrachtet – den Auftrag zur ästhetischen Erziehung des Menschen (Schiller).
Aus der politischen Ohnmacht des deutschen Bürgertums heraus sowie angesichts des desillusionierenden Verlaufs der französischen Revolution unter der Jakobinerherrschaft, sollte eine politische Reformbewegung ihren Ausgang allererst in der ästhetischen Bildung des Einzelnen nehmen (müssen). In der aufklärerischen Perspektive sittlicher Vernunftwerdung inszenierte das bürgerliche Trauerspiel anstelle zotig-derber Possenheiterkeit oder aber pathetischer ‚Haupt- und Staatsaktionen’ die Universalität verinnerlichter Tugendmoral. Dieses intellektuelle Theaterkonzept zielte über Gottscheds Anliegen einer literaturgeleiteten Geschmacksverbesserung hinaus auf die Überwindung tradierter Standesgrenzen (dramaturgisch: Aufhebung der Ständeklausel) zugunsten einer egalitären Gesellschaftsordnung im Zeichen naturrechtlich gesicherter Humanität (Lessing, Schiller).
Die durch die Verabschiedung einer normativen Regelpoetik zugunsten einer mehr rezeptionsorientierten Wirkungsästhetik ermöglichten Anfangserfolge konnten das baldige Scheitern eines moralisch-ästhetisch anspruchsvolleren Theaters nicht verhindern. Die sogar am Weimarer Hoftheater Goethes letztlich resistente Publikumsgunst sowie der damit verbundene ökonomische Misserfolg standen der Entwicklung eines Kulturtheaters entgegen. Dies sollte sich beispielhaft an dem von Hamburger Bürgern gegründeten Theater am Gänsemarkt unter Lessings Dramaturgie zeigen, welches schon nach zwei Jahren (1767-69) wieder schließen musste.
Zudem war das deutsche Theaterwesen im ‚langen’ 19. Jahrhundert (1789-1914), das auf der Bühne mit der Diskreditierung der popularisierten Bildungsideale des ‚Schönen, Wahren und Guten’ endete, einem vielseitig bedingten Bedeutungswandel unterworfen. Nicht zuletzt die während des Nationalsozialismus vollzogene politische, moralische und ästhetische Korrumpierung des Bürgertums hat dessen eigene Bestimmung der Bühne zum Ort kritischer Selbstreflexion außer Kraft gesetzt.
Dennoch hat sich etwas vom einst bürgerlich ideellen Gehalt – in Form der anspruchsvollen Verbindung ästhetischer und politischer Elemente – im deutschen Kulturtheater bis in die heutige Medien- und Wissensgesellschaft hinein erhalten. Zwar bezieht das Gegenwartstheater seine Bedeutung nicht mehr aus einem gesellschaftspolitischen Emanzipationsauftrag, wie er ihm im Interesse einer bestimmten Schicht und im Zeichen der historischen Aufklärung zukam. Jedoch wirkt in ihm der Kulturauftrag der ästhetischen Bildung des Einzelnen nach, insofern sie dessen Wahrnehmung auch in zunehmend als überkomplex empfundenen Lebenswelten schärft und somit das Bewusstsein für gesellschaftliche Problemzusammenhänge wach hält.
Aus der aufklärerischen Idee einer geistig-sittlichen Erziehungsanstalt für eine erst werdende Nation ist eine ästhetisch-ethische Reflexionsinstitution im Kulturbetrieb des wiedervereinigten Deutschland geworden. Als solche hat das Theater freilich auch heute einen schweren Stand, sei es aus ökonomischen Zwängen, sei es aus publikumswirksamerer Medienkonkurrenz. Den Erwartungen einer von Unterhaltungsindustrie mitgeprägten Freizeitgesellschaft zu entsprechen, ist für jedes künstlerisch ambitionierte Regietheater schwierig geworden. So hat sich im Anschluss an die reformerischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts eine Theaterpädagogik herausgebildet, welche ihren Bereich von der Ausbildung zu bühnenbezogenen Berufen auf allgemein zugängliche Kurse mit kulturellem Bildungszweck ausgeweitet hat.1 In ihm leben seit den 60er Jahren die ästhetischen Bildungsideen – umgesetzt zunächst in politisch-didaktische und gesellschaftlich-emanzipatorische, später mehr in psychosoziale und spielpädagogische Kommunikationsformen – in ungleich reinerer Form weiter als dies in der Spielplangestaltung und Aufführungspraxis der großen Theater der Fall ist.
Die Formierung des Ästhetischen zum Ausgangspunkt der sittlichen Erziehung und politischen Bildung des Einzelnen war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts flankiert durch die ideelle Überhöhung des neu zu erschaffenden Literaturtheaters zum Projekt nationaler Einigung. Diese allgemein-kulturelle Zielsetzung schien den finanziellen Aufwand zur Errichtung stehender Bühnen ebenso zu rechtfertigen, wie die Forderung nach deren Subventionierung durch das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum. Die auf die Bildung kultureller Einheit im Zeichen bürgerlicher Werte ausgerichtete Nationaltheateridee, die damit auch eine anti-feudale Stoßrichtung gegen die Viel- und Kleinstaaterei der deutschen Fürstentümer hatte, durfte sich nicht auf das überkommene Finanzierungskonzept höfischen Mäzenatentums stützen wollen.
Zugleich konnte es sich angesichts des vorerst nicht entwickelten Publikumsgeschmacks nicht darauf verlassen, dass eine literarische Theaterkultur sich durch den Erlös von Eintrittskarten ökonomisch selbst tragen könnte. Das genannte Beispiel Hamburgs, einer freien Hansestadt, zeigte indes, dass ein allein vom wohlhabenden Bürgertum getragenes Nationaltheater nicht überlebensfähig war. So wurde das Nationaltheaterkonzept schließlich von den Fürstenhöfen absorbiert, seiner impliziten politischen Brisanz enthoben und letztlich ideell entkernt. Das emanzipatorische Streben des Bürgertums nach eigener Öffentlichkeit wurde durch die Erklärung der Hoftheater u.a. in Wien (1776), Mannheim (1779) und Berlin (1786) zu Nationaltheatern neutralisiert.2
Erst mit der Neugründung des an der Stelle des ehemaligen Hoftheaters (1907-08) erbauten Deutschen Nationaltheaters in Weimar im Jahre 1919 gelangt mit dessen Namen und Symbolkraft zugleich die finanzielle Verantwortung in bürgerliche Hände. Das mit der Niederlage im 1. Weltkrieg einhergegangene Ende des Ancien Regime führte zu Beginn der Weimarer Republik zur flächendeckenden Übernahme der Hoftheater in die öffentliche Trägerschaft.
Die Vielzahl deutscher Stadt- und Staatstheater samt ihrer heutigen Subventionierung hat ihren historischen Ursprung also in der territorialen Souveränität der Kleinstaaten, deren Fürstenhöfen die öffentliche Repräsentation durch Hoftheater gefiel, bevor letztere vom bildungsästhetischen Nationaltheatergedanken überformt wurden.
- Die Zielsetzung, die kulturelle Bildungsfunktion des Theaters fortzusetzen, zeigt sich etwa im Programm des Bundesverbandes Theaterpädagogik, das “die Kunstform Theater als lebendigen Prozess transparent” machen und die “kommunikativen, kreativen und ästhetischen Kompetenzen der daran Beteiligten erweitern” möchte. Zit. n. Homepage Bundesverband Theaterpädagogik: http://www.butinfo.de. [Back]
- Diese unter adeliger Regie vorgenommne Theaterumbenennung im Sinne eines Parierens von drohender Machtverschiebung weist auf die politische Entwicklung des 19. Jahrhunderts voraus. Und zwar insofern die zunächst von bürgerlichen Intellektuellen als Freiheits- und Demokratiebewegung forcierte Forderung nach nationaler Einheit schließlich mit der Gründung des 2. Deutschen Reiches (1871) ‘von oben’ eingelöst und damit gesellschaftspolitisch entschärft wurde. [Back]
3. System und Subventionierung
Die systemische Struktur des gegenwärtigen Kulturtheaters zeichnet sich durch drei Hauptcharakteristika aus:
- künstlerische, technische und administrative Organisation: Mehrspartentheater mit Sprech-, Musik- und Tanztheater
- Aufführungspraxis und Spielplangestaltung: Repertoiretheater mit festem Schauspielerensemble
- Art und Umfang der Finanzierung: Subventionstheater mit öffentlicher Trägerschaft
3.1. Mehrspartentheater mit Sprech-, Musik- und Tanztheater
Die deutschen Theater sind meistens als Dreispartenhäuser organisiert. D.h. es werden Sprechtheater, Oper und Ballett unter einem Dach verwaltet und als ein einziger Betrieb geführt. Auf diese Weise können künstlerische Vielfalt, technische Herausforderungen und finanzielle Verpflichtungen gebündelt und hinsichtlich des kulturellen Angebotes für die jeweilige Stadt aufeinander abgestimmt werden. Für den künstlerischen Sektor mit der Dramaturgie sowie der Aufführungs- und Probenplanung ist in städtischen Theatern der Intendant, in privatrechtlich geführten Theatern der Direktor verantwortlich. Im Mehrspartenbetrieb erhält jede einzelne Sparte oft zusätzlich einen eigenen Leiter. Dazu gibt es für den technischen Bereich einen eigenen Direktor, der für Bühnenbild, Requisite, Beleuchtungs- und Tontechnik, die Masken- und Kostümbildnerei sowie für die dazu gehörigen Werkstätten zuständig ist. Ergänzend zu diesen die künstlerischen und technischen Sektoren betreffenden Leitungsaufgaben, die man auch unter dem Begriff der Bühnenvorstände integriert, kommt die der Verwaltung hinzu, welcher ein weiterer Direktor zugeordnet ist. Neben dem Mehrspartentheater gibt es auch, vor allem in den gröβeren Städten, reine Sprechtheater-, Tanz- oder Orchesterbetriebe.
3.2. Repertoiretheater mit festem Schauspielerensemble
Im Gegensatz zum Ensuitetheater, welches die einmal eingeübte Inszenierung in einer von anderen Stücken nicht unterbrochenen Reihe zur Aufführung bringt, sorgt das Repertoiretheater für eine abwechslungsreiche Spielzeit. Es werden verschiedene Theaterstücke einstudiert und abwechselnd aufgeführt. Aus diesem Repertoire sieht das Publikum also unterschiedliche Inszenierungen mit denselben Ensemblemitgliedern, und das oft mehrmals innerhalb einer Woche.
Die betriebliche Theaterform des Repertoires dient indes nicht nur dem Publikum, indem es die öffentlich erwünschte Vielseitigkeit eines städtischen Kulturtheaters garantiert. Sie hat auch positive Auswirkungen auf die Theaterkultur selber, indem sie insbesondere die Schauspieler und Regisseure zu einem kontinuierlichen Prozess künstlerischer Kreativität nötigt oder doch veranlasst. Anders als im Spielen der Stücke en suite, hat der Schauspieler kaum Gelegenheit, in eine allabendlich abrufbare Routine zu verfallen, dessen künstlerische Saturiertheit allenfalls durch ein artistisches Virtuosentum überspielt werden kann oder muss.
Hingegen fordert ihn der mehrfache Wechsel der Rolle zur Aufbietung aller seiner spielerischen Ausdrucksfähigkeiten heraus. Die permanente Verwandlung von einer Figur in eine andere ist zwar künstlerisch sehr anspruchsvoll, führt aber nicht etwa nur zur Erschöpfung der Kräfte. Vielmehr setzt sie auch die Kräfte zur authentischen Bühnenpräsenz frei und ermöglicht vielleicht erst eine Entwicklung hin zur groβen Schauspielerpersönlichkeit. Voraussetzung hierfür – wie für den Repertoirebetrieb insgesamt – ist ein festes Ensemble von Schauspielern.(vgl. Iden 1995: 71)
3.3. Subventionstheater mit öffentlicher Trägerschaft
Lassen Sie uns nun einen Blick werfen auf eine weitere Besonderheit des deutschen Theatersystems, die gar nicht genug hervorgehoben werden kann: seine flächendeckende Finanzierung durch die Öffentliche Hand. Kein anderes Land der Welt lässt sich eine lebendige Theaterszene so viel kosten wie Deutschland. Wegen dieser im internationalen Vergleich quantitativ sowie qualitativ immer noch hervorragenden Produktionsbedingungen wird Deutschland von Künstlern nicht selten als Theaterparadies gepriesen.
Dies gilt trotz der in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufkommenden Debatten darüber, ob und warum wir das Theater brauchen, wie viel es kosten darf, worin sein Beitrag zur Gesellschaft oder seine Funktion innerhalb derselben bestehen kann, soll oder darf. Der Auslöser dieser seit Deutschlands Wiedervereinigung verschärften Kontroverse, die sich Mitte der 1990er Jahre publizistisch zuspitzte, war die Finanzierung dieses weltweit kostspieligsten Theaters durch die Öffentliche Hand.
In Zeiten geringeren Wirtschaftswachstums, zunehmend ausbleibenden Steuereinnahmen und entsprechend schrumpfender Haushalte der Länder und Kommunen geriet neben vielen anderen Bereichen, vor allem auch der Kulturbereich ins Visier notwendig gewordener Sparmaβnahmen. So wurden im Westen Berlins die Freie Volksbühne und das Schlossparktheater geschlossen. In die Schlagzeilen geriet 1993/94 vor allem die Schlieβung des Schillertheaters, welches während des Kalten Krieges in West-Berlin auch als eine Art kulturpropagandistisches Gegengewicht zu den traditionell etablierten Theatern diente, welche sich im historischen Stadtkern in Ost-Berlin (DDR) befanden.
Seit der Wiedervereinigung von Ost- und West-Berlin begannen das wegen Bertolt Brechts Leitung in den 1950er Jahren berühmte Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm (heute Bertolt-Brecht-Platz 1), das traditionsreiche Deutsche Theater, das Maxim Gorki Theater und die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz rasch die gemeinsame Theaterkultur der neuen Hauptstadt zu prägen. Besonders letztere sorgte unter der eigenwilligen Leitung ihres Intendanten Frank Castorf für Furore über die deutsche Theaterszene hinaus und wurde seither aufgrund experimentierfreudiger Aufführungen mehrfach mit dem Titel „Theater des Jahres“ ausgezeichnet.
Demgegenüber verblasste zunächst die theaterästhetische Vorbildfunktion der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, welche sie seit den frühen 1970er Jahren unter der Leitung von Peter Stein eingenommen hatte. Wohl auch wegen ihres noch nachwirkenden Rufes, die führende Bühne in Deutschland gewesen zu sein, wurde die hohe Subventionierung dieses Privattheaters jedoch aufrechterhalten. Unter der innovationsfreudigen Leitung von Thomas Ostermeier konnte die Schaubühne mit zeitkritisch ausgerichteten Spielplangestaltungen sowie durch eine avantgardistische Akzentuierung des Tanztheaters (Sasha Waltz) seit 1999 zunehmend wieder nationales und internationales Renommee erlangen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Vielzahl ihrer Gastspiele im Ausland.
Zuvor hingegen wurde die aus Sparzwängen beschlossene Schlieβung des Schillertheaters als Beginn eines unaufhaltsam grassierenden Theatertodes hochstilisiert und sollte zum Anstoβ einer bundesweiten Diskussion werden. In deren Zentrum stand die unübersehbar gewordene Finanzkrise des deutschen Theatersystems. Diese wurde nicht etwa ausgelöst durch rückgängige Zuschauerzahlen. Im Gegenteil: das Publikumsinteresse war während der Krise der neunziger Jahre und ist auch heute ungebrochen. So zählte zum Beispiel in der Spielzeit 1993-94, also inmitten der Krisenstimmung, das dreispartige Theater der Stadt Köln 710 000 Besucher und übertraf damit die Besucherzahl 526 000 im Stadion des lokalen Fußballclubs bei weitem.(vgl. Gronemeyer 2000: 159)
Ausschlaggebend war vielmehr das Missverhältnis zwischen den steigenden Kosten in einem personalintensiven Theaterbetrieb einerseits und den sinkenden Einnahmen der deutschen Städte und Länder andrerseits. Spätestens mit der im gegenwärtigen Wirtschaftsaufschwung eingetretenen Verbesserung der Haushaltslage könnte die Finanzierungsdebatte, wenn nicht völlig abklingen, so doch ihre schrille Tonlage weiter verlieren. Hinzu kommt die neuerdings wieder wachsende Erkenntnis, dass eine lebendige Theaterszene erheblich zur kulturellen Profilbildung von Städten und Regionen beizutragen vermag und diese innerhalb der wirtschaftlichen Standortkonkurrenz symbolisches Kapital bedeutet.
Allerdings weist noch die jüngste Theaterstatistik (von 2006), die jährlich vom Deutschen Bühnenverein herausgegeben wird, für die Spielzeit 2004/5 einen weiteren Rückgang der öffentlichen Zuschüsse aus. Während die „Zuweisungen der Länder um knapp 4 Millionen Euro stiegen (2003/04 hatten die Länder um 12,7 Millionen Euro reduziert), verringerten die Kommunen ihr finanzielles Engagement jedoch um mehr als 40 Millionen Euro (2003/04 war im kommunalen Bereich bereits eine Kürzung um 30,7 Millionen Euro erfolgt).“3
Wie schon seit Beginn der neunziger Jahre wird weiter Personal abgebaut, was zunehmend auch die künstlerische Substanz in Frage stellt. Zum Theater gehören nun einmal neben den Schauspielern, Tänzern, Sängern und Musikern eine groβe Anzahl weiterer Mitarbeiter, von den Bühnenbildnern, Dramaturgen, Dirigenten und Regisseuren bis hin zu den Kostümbildnern, Friseuren, Technikern und Verwaltungsangestellten. Letztere bilden gegenüber dem künstlerischen Personal (43%) sogar knapp die Mehrheit (57%), sind aber durch Tarifverträge des öffentlichen Dienstes besser vor Entlassungen oder Gehaltskürzungen geschützt.
Trotz leichtem Personalabbau ist die Zahl der Veranstaltungen insgesamt, also einschlieβlich der Privattheater, nur leicht um 1,9% rückläufig gewesen, ist aber mit 62.675 gleichwohl beeindruckend hoch. Die Anzahl der von den 151 öffentlichen Theatern gebotenen Inszenierungen erreichte mit 4.629 den weiterhin hohen Stand der Vorjahre. Trotz der durch die Kürzungen erschwerten Bedingungen gelingt es den Theatern (und Orchestern), der Öffentlichkeit ein vielseitiges künstlerisches Programm auf hohem Niveau anzubieten.
Jährlich gehen annähernd 35 Millionen Besucher in Theaterveranstaltungen, davon 20 Millionen in die öffentlich getragenen und ca. 15 Millionen in die ebenfalls zahlreichen privaten Theater-, Orchester- und Festspielunternehmen in Deutschland. Die vor allem durch Eintrittskarten erzielten Einnahmen der Theater weisen eine ansteigende Tendenz auf. Das von den Theatern selbst erwirtschaftete Geld (Einspielergebnis) reichte in der Spielzeit 2004/2005 zur Deckung von 17% des Gesamtetats. Die restlichen 83% wurden durch die öffentliche Finanzierung abgedeckt.
Diese Zahlen sind diejenigen des am höchsten subventionierten Theatersystems der Welt. Sie zu nennen und zur Kenntnis zu nehmen ist für ein Verstehen der deutschen Theaterszene unentbehrlich. Ihre weithin öffentlich getragene Finanzierung ist eines der drei Hauptcharakteristika.
Daneben gibt es eine ebenso künstlerisch ambitionierte wie finanziell kaum noch unterstützte Szene der Off-Theater und Freien Gruppen. Gerade in deren experimentierfreudigen Produktionen jedoch werden spezifisch theaterästhetische Möglichkeiten neu erschlossen und die alte Kunst des Theaterspielens für ein junges Szenepublikum immer wieder zeitnah realisiert. Von der gegenüber etablierten Häusern auffälligen Lebendigkeit der Freien Szene gehen wichtige Impulse aus, die vor allem von schon traditionell (szene-)künstlerisch profilierten Häusern wie dem TAT in Frankfurt oder den HAU-Bühnen in Berlin verarbeitet werden.
Letzteres, das Hebbel am Ufer (HAU) in Kreuzberg, wurde 2003 als ein Kombinat aus Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und dem Theater am Ufer gegründet. Es macht unter der Intendanz Matthias Lilienthals das künstlerische Selbstverständnis der Freien Szene gewissermaßen zur Programmatik eines festen Hauses. Zugleich zeigt es, dass auch mit einem wesentlich geringeren Etat aus der Gestaltungsfreiheit darstellender Kunst ein Gewinn an kultureller Bedeutung hervorgehen kann.
4. Bedeutung und Potenzial
Vom Bedürfnis nach Selbstverständigung der griechischen Polis, der hellenistischen Adaptation tragischer Selbstbehauptung im imperialen Rom, über die geistig-religiösen Instruktionsabsichten der mittelalterlichen Mysterien- und Passionsspiele bis hin zur neuzeitlichen Selbstdeutung des Menschen als säkularem Subjekt der Geschichte – immer bewegten sich im Zentrum der theatralen Szene Figurationen des Individuums in Auseinandersetzung mit den dasselbe übergreifenden Mächten des Schicksals, des Todes oder eines transzendentalen Heils. Aus diesem theatermetaphysischen Erbe bildeten sich im Zuge gesamtkultureller Säkularisierung diesseitige Konfliktfigurationen heraus.
Zum einen ist es das Dual Individuum/Gesellschaft, welches die europäische Bühnengeschichte durchzieht, indem es im dramatischen Zeichen unlösbarer Spannung(en) zwischen den Zumutungen an den Einzelnen und den Ansprüchen des Allgemeinen oszilliert. Zum anderem ist es das einstmals sakrale, neuzeitlich abstrakt gewordene Andere, welches die darstellende Kunst gerade auch in ihren Avantgardebewegungen unausgesetzt herausfordert. So verlagert sich seit der Moderne das szenische Konfliktgeschehen oftmals vom klassischen Dual Individuum/Gesellschaft in die leere Innerlichkeit einer monologisch verzweifelten Existenznot. Aus dieser erscheint der soziale Raum nurmehr als die Szene eines Ungeheuren, die keinen Regisseur mehr kennt, sondern nur noch die Improvisationen entfesselter Kontingenz.
Immer jedoch, auch in nihilistischen oder surrealistischen Bühnenwelten, besteht die kulturelle Bedeutung des Theaters in seiner kommunikativen Funktion. Sei es, dass diese auf eine Verbürgung gemeinsamer Werte oder auf radikale Umwertung zielt, die Konsolidierung normierter Gesellschaftsverhältnisse oder deren Umsturz befördert, –sei es, dass es um die Würdigung des Ewig-Menschlichen oder die Vision eines neuen Menschen geht: Theater bringt zur Darstellung und Sprache, was alle zusammen und jeden allein angeht.
Aus dieser öffentlichen Darstellungsmöglichkeit kollektiver Erfahrungen bezieht das Kulturtheater sein in Deutschland noch weitgehend ungebrochenes Interesse, welches auch seine Unterstützung durch den Steuerzahler rechtfertigt. Dabei gilt es festzuhalten, dass die nicht-kommerzielle Grundstruktur vor allem der künstlerischen Unabhängigkeit dient. Sie soll es dem Theater ermöglichen, seine spezifische Aufgabe im gesamtkulturellen Prozess wahrzunehmen. Diese besteht auch darin, kulturelle Traditionsbestände zu bewahren, indem sie diese mit der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung der Gegenwart vermittelt.
So werden weiterhin Theaterstücke der griechischen Antike (zuletzt Sophokles’ Antigone, Aischylos Orestie, Euripides Bakchen) sowie der deutschen Klassik (Lessing, Schiller, Goethe, Kleist) aufgeführt und im Lichte unserer Gegenwartsmoderne aktualisiert. Dieses Ziel verfolgt auch ein Trend der letzten Jahre, der aus der Dramatisierung von Prosatexten neue Bedeutungsschichten kanonischer Werke frei zu legen sucht. Gegenwärtig werden Die Leiden des jungen Werthers (Goethe), Berlin Alexanderplatz (Döblin) und Der Schimmelreiter (Storm) im Maxim-Gorki-Theater auf die Bühne gebracht. Auch wurde dort dieses Jahr die intermediale Übersetzbarkeit zwischen Film- und Theaterkunst erprobt, indem Gegen die Wand (Fatih Akin) szenisch dramatisiert wurde (UA 15.02.2007).
Im Unterschied zu Wissenschaft, Massenmedien und Politik ist es das Privileg der Kunst, historische ebenso wie aktuelle Problemhorizonte in einem ästhetischen Raum thematisieren zu können. In diesem nämlich gibt es keinen solchen Handlungsdruck, der auf der Ebene des Realen unmittelbare Konsequenzen zeitigt. So gesehen bedeutet das Experimentieren mit neuen Ausdrucksformen (Video, Film, Multimedia), der Mischung konventioneller Stilelemente mit gerade modischen aus der Popkultur nicht etwa nur eine Bereicherung der theatralen Show. Vielmehr deutet es – paradoxal gesprochen – auf die notwendige Freiheit, den Umgang mit der Gegenwart spielerisch einüben zu können. Die Bühne ist – recht verstanden – eine Art Probenraum der Wirklichkeit.
Ihr groβer Vorzug ist es, Möglichkeiten des Denkens und Handelns sowie überhaupt erst des Wahrnehmens auszuloten, welche in den von Sachzwängen beherrschten Verhältnissen der Realität verstellt bleiben. In den Ausdrucksformen der Bühnenkunst können sich die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle artikulieren, die in unseren disziplinierten Lebensformen und unserer effizienzzentrierten Arbeitswelt keinen Platz finden. Die am künstlerischen Produktionsprozess Beteiligten – also Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner und andere –, sie teilen mit dem Zuschauer eine einzigartige ästhetische Erfahrung: Im sinnlich wahrnehmbaren Bühnengeschehen strömen die imaginativen Energien einer Vielzahl von Individuen zusammen und verdichten sich zum Hier und Jetzt einer symbolischen Gestaltbewegung.
Daraus können sich für den einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft insgesamt neue Annäherungen an das ergeben, was ansteht, bewältigt, umgestaltet oder überhaupt erst zu erkennen ist. Hier ist zu denken an die in breiter Öffentlichkeit diskutierten Probleme mit der Globalisierung, der Migration und mit den Religionen; aber auch an scheinbar nur private Probleme mit dem Nachbarn, der Einsamkeit oder der Liebe. Inmitten unserer kulturellen sowie alltäglichen Existenz also – und das heißt symbolisch verdichtet während einer Aufführung jetzt und jetzt und jetzt – eröffnet das Theater individuellen und kollektiven Raum zum Einhalten, Nachdenken, zur Reflexion noch des Kleinsten und Gröβten.
Kraft seiner animierenden Sprache und sensibilisierenden Bilder kann das Theater der Gesellschaft, die es finanziert, als Korrektiv ihrer Entwicklungstendenzen dienen. Es kann etwa Existenzmöglichkeiten auβerhalb der ubiquitären, ökonomischen Verwertungslogik des globalisierten Kapitalismus aufzeigen, indem es an den ethisch-ästhetischen Wert des gelebten Augenblicks erinnert. Durch seine Kunst des Verwandelns stellt es oft das Gegebene in einen Horizont der Utopie, erlaubt es manchmal, die Härte der Realität als Phantasma erscheinen zu lassen, und es macht nicht selten Lust auf ein anderes Leben. Wenn das Theater sich solchermaβen auf seine genuin ästhetische Wirksamkeit besinnt, dann lieβe sich – frei nach Shakespeare („All the world’s a stage”) – die Bühne auch als ein Ort des Werdens von Welt vorstellen.
Bibliographie
Bundesverband Theaterpädagogik e.V. Online-Zugriff auf Artikel am 10. Oktober 2007 unter <http://www.butinfo.de>
Deutscher Bühnenverein. Bundesverband der Theater und Orchester. Online-Zugriff auf Artikel unter <www.buehnenverein.de/presse/statistik> am 10. Oktober 2007
Gronemeyer, Andrea (32000): Theater. Köln: DuMont Buchverlag
Iden, Peter (Hg.) (1995): Warum wir das Theater brauchen. Frankfurt/M.: Suhrkamp