The twenty-first century is the century of the performative.1 Claire Colebrook (2018)
Eine performative Lehr-, Lern- und Forschungskultur kann überall dort entstehen, wo die Fachwissenschaft bzw. Fachdidaktik in einen konstruktiven Dialog mit den performativen Künsten eintritt.
Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (vgl. die Sustainable Development Goals der UN)2 erfordern kreative Lösungen. Kreativität wird aber bislang an Hochschulen nicht ausreichend gefördert, eine künstlerisch orientierte Neuausrichtung in Lehre und Forschung ist dringend erforderlich. Bereits auf den UNESCO-Weltkongressen Lissabon 2006 und Seoul 20103 wurde dazu aufgerufen, die Rolle der Künste in der Bildung zu stärken. Allerdings hält sich die Umsetzung dieser Empfehlungen bisher sehr in Grenzen.
Kognitionswissenschaftliche Studien belegen die tiefere und langfristige Verankerung von Inhalten durch die Verwendung performativer Lehr- und Lernformen4. Sie führen zu besseren und kreativeren Studienergebnissen, die Studierenden identifizieren sich stärker mit ihrem Studium, das allgemeine Engagement innerhalb der Hochschulen steigt, die Abbruchquoten sinken, die universitäre Ausbildung gewinnt an Komplexität und Praxisnähe und die Absolventen und Absolventinnen haben bessere Vermittlungschancen.
Auf dem 6. Scenario Forum Symposium am 21. und 22. September 2018 in Hannover unter dem Titel Universitäten auf dem Wege zu einer performativen Lehr-, Lern- und Forschungskultur? verständigten sich die teilnehmenden Hochschullehrenden darüber, was unter einer performativen Lehr-, Lern- und Forschungskultur zu verstehen ist: 5
- Lehrende lassen sich von den performativen Künsten inspirieren, insbesondere von der integrativen Kunstform Theater.6
- Der Begriff performativ betont das Aus- und Aufführen von Handlungen in pädagogischen Kontexten, insbesondere das vom Theater inspirierte kreative Handeln. Er verweist auf die FORMative, d.h. persönlichkeitsbildende bzw. auch transFORMative, d.h. potentiell verhaltens- und einstellungsverändernden Dimension von Lehren und Lernen.
- Besondere Aufmerksamkeit gilt der offenen bzw. spezifischen FORM, in der gelehrt und gelernt wird.7 Lehrende schöpfen aus dem reichen Formenrepertoire der Künste, um Unterricht sinnlich zu gestalten.
- Lehrende und Studierende teilen sich nicht nur sprachlich mit, sondern nutzen auch zusätzliche Ausdrucksmittel, sind also mit ‚Kopf, Herz, Hand und Fuß‘ am kreativen Unterrichtsprozess beteiligt. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr ausschließlich auf Resultate, sondern verstärkt auf die konkreten Lehr- und Lernhandlungen, aus denen Unterrichtsinhalte erst entstehen.
- Perspektiv- und Rollenwechsel und damit die Befähigung zur Empathie haben einen zentralen Stellenwert.
- Angestrebt werden demokratische, partizipative Lernprozesse. Die Lehrperson ist Begleiter*in von Lernprozessen, in denen Studierende autonome Mitgestalter und Mitgestalterinnen sind und auch Verantwortung übernehmen.
- Kompetenz wird erst durch Anwendung in der Praxis vollständig erworben. Das Handeln in Praxiskontexten kann mit performativen Lehr- und Lernansätzen simuliert werden.
- Erkenntnis braucht ihren Raum, d.h. eine inspirierende Lernumgebung, in der sich Lehrende und Studierende frei bewegen können.
- Tiefes, nachhaltiges Lernen erfordert Zeit, d.h. eine adäquate Taktung von Themen und Projekten in Blöcken.
- Fehler werden als Lern- und Erfahrungschancen begriffen. Das erfordert ein Umdenken im Bereich Leistungsbewertung, es geht nicht mehr um das übliche ‚Sanktionieren von Fehlleistungen‘.
- Die ganze Welt ist Bühne. Die kritische Auseinandersetzung mit den medialen Aspekten unserer Inszenierungsgesellschaften (z.B. mit Formen der Selbstdarstellung auf politischen Bühnen und der Selbstinszenierung in sozialen Medien) gehört zur ‚performativen Alphabetisierung‘. Insofern fördert eine performative Lehr-, Lern- und Forschungskultur die demokratische (interkulturelle/transnationale) Partizipationsfähigkeit.
- Claire Colebrook (2018): Foreword. In: Bryon, Experience (Hrsg.): Performing Interdisciplinarity. Working across disciplinary boundaries through an active aesthetic. London/New York: Routledge, X. [Back]
- United Nations Sustainable Development Goals. https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/. [Back]
- UNESCO Roadmap for Arts Education, 2006 – http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/CLT/pdf/Arts_Edu_RoadMap_en.pdf und UNESCO Second World Conference on Arts Education, 2010 – http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/arts-education/world-conferences/2010-seoul/. [Back]
- Vgl. Arndt & Sambanis (2017). [Back]
- Siehe in diesem Kontext auch Even & Schewe (2016). [Back]
- Zeitgenössischen Theatermachern geht es oft um das kreative Zusammenspiel von Elementen aus verschiedenen Künsten, z.B. Performance Art, Musik, Bildende Kunst, Film, Tanz, Literatur. [Back]
- Vgl. Schewe & Woodhouse (2018). [Back]
Die Teilnehmenden des 6. Scenario Forum-Symposium in Hannover verabschieden folgende Empfehlungen:
- Die Hochschuldidaktik sollte sich an den UNESCO-Empfehlungen für ‚Arts Education‘ orientieren.8
- Seit den 1990er Jahren ist (vor allem in den Sozial- und Kulturwissenschaften) von einer performativen Wende die Rede.9 An der von Linguistik, Gender Studies und Theatre & Performance Art angestoßenen und stark beeinflussten Theoriediskussion sollten sich weitere Disziplinen beteiligen.
- Hochschullehrende sollten anstreben, mit Kunstschaffenden zu kooperieren, um künstlerischen Input in Lehrveranstaltungen zu integrieren bzw. gemeinsam mit den Kunstschaffenden auch öffentlichkeitswirksame performative Projekte zu planen.
- Für die Lehrerausbildung und -fortbildung sollten überzeugende performative Konzepte und Trainingsprogramme entwickelt werden, damit in allen Bildungseinrichtungen eine performative Lehr- und Lernkultur entstehen kann.10
- In den verschiedenen akademischen Disziplinen sollte erkundet werden, inwiefern von den performativen Künsten bereits innovative Impulse ausgegangen sind und daher von performativer Lehr- und Lernpraxis bereits die Rede sein kann. Bemühungen um einen Brückenbau zwischen Fachwissenschaft/-didaktik und den performativen Künsten sollten möglichst verstärkt werden und an den Hochschulen Wertschätzung und Anerkennung erfahren.
- In verschiedenen universitären Disziplinen sollte zu performativer Forschung ermutigt werden.11 Aus performativer Forschungsperspektive wäre zu prüfen, inwieweit die disziplinspezifische Praxis selbst als Forschung anerkannt werden kann und Forschungsergebnisse sich auch in nicht-diskursiver Weise präsentieren lassen.
Diese Empfehlungen sollen dazu anregen, an bzw. auch zwischen Hochschulen Netzwerke zu gründen, durch die in Zukunft das performative Lehren, Lernen und Forschen gezielt gefördert wird.12 Es sollte möglichst an relevante Fach-/Berufsverbände, Zeitschriften sowie auch an Kolleginnen und Kollegen in außeruniversitären Bildungseinrichtungen weitergeleitet werden.
Anmerkungen: Detailliertere Informationen zum Programm des Symposiums finden sich hier: https://www.fsz.uni-hannover.de/scenarioforumsymposium.html [letzter Zugriff 30.09.2018]
Wir danken allen, die durch Vorträge, Präsentationen, Workshops, Diskussionen und sonstigen Input am Symposium bzw. der Nachbereitung des Symposiums mitgewirkt haben.
- UNESCO Roadmap for Arts Education, 2006 – http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/CLT/pdf/Arts_Edu_RoadMap_en.pdf. [Back]
- Vgl. Bachmann-Medick (2014). [Back]
- Siehe z.B. die gründliche Bestandsaufnahme von Fleiner (2016). [Back]
- Zum Verständnis von performativer Forschung siehe z.B. Hasemann (2006). [Back]
- Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das große hochschuldidaktische Engagement von (inzwischen zumeist pensionierten) Kolleginnen und Kollegen in dem bis etwa 2008 aktiven Netzwerk ‚Theater in der Lehre‘. [Back]
Bibliografie
Arndt, Petra A. & Sambanis, Michaela (2017): Didaktik und Neurowissenschaften – Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis. Tübingen: Narr
Bachmann-Medick, Doris (2014): Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt
Colebrook, Claire (2018): Foreword. In: Byron, Experience (Hrsg.): Performing Interdisciplinarity. Working across disciplinary boundaries through an active aesthetic. London/New York: Routledge, X
Even, Susanne & Schewe, Manfred (2016): Performatives Lehren, Lernen, Forschen – Performative Teaching, Learning, Research. Berlin: Schibri
Fleiner, Micha (2016): Performancekünste im Hochschulstudium. Transversale Sprach-, Literatur- und Kulturerfahrungen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung. Berlin: Schibri
Haseman, Brad (2006): A Manifesto for Performative Research. In: Media International Australia incorporating Culture and Policy 118, 98-106. https://eprints.qut.edu.au/3999/1/3999_1.pdf [letzter Zugriff 30.09.2018]
Schewe, Manfred & Woodhouse, Fionn (2018): Performative Foreign Language Didactics in Progress: About Still Images and the Teacher as ‘Formmeister’ (Form Master). In: Scenario XII/1, 53-69
UNESCO Roadmap for Arts Education, 2006 http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CLT/CLT/pdf/Arts_Edu_RoadMap_en.pdf [letzter Zugriff 30.09.2018]
UNESCO Second World Conference on Arts Education, 2010 http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/arts-education/world-conferences/2010-seoul/ [letzter Zugriff 01.10.2018].
United Nations Sustainable Development Goals https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/ [letzter Zugriff 20.10.2018]