Scenario: Guten Tag, Herr Prof. Hofmann. Leser und Leserinnen dieser Zeitschrift sind sehr an Aspekten performativen Lehrens, Lernens und Forschens interessiert. Als Literaturwissenschaftler setzen Sie sich schon lange mit Aspekten des Performativen auseinander, z.B. in Ihrer Veröffentlichung Presence of the Body (2015). Wo, wann und wie ist denn dieses Interesse entstanden? Welche Impulse waren wichtig für Sie?
GH: Im akademischen Sinne reicht dieses Interesse zurück in meine Zeit als Lecturer in Seoul (1991-1995). Damals lernte ich meine Frau Snježana kennen, die als Anthropologin schamanische und buddhistische Rituale in Korea erforschte. Während ich an der Hankuk Universität deutsche Literatur und Sprache unterrichtete, hatte ich nebenher noch genügend Gelegenheit, Snježana bei ihren Feldforschungen zu begleiten und dadurch eine Menge zu lernen. Damals wurde mir die spirituelle Dimension des Performativen erstmals klar. Und es wurde mir deutlich, wie wichtig die performative Dimension der Literatur ist, nicht nur in der gemeinsamen Kunst des Theaters, sondern als Akt des Schreibens und Lesens, z. B. in Phänomenen der Trance, Ekstase und Besessenheit, also der Auflösung, Verlagerung und Überschreitung persönlicher und sozialer Identitäten.
Scenario: Nach Ihrer Zeit in Korea (1991-1995), in der Sie sich intensiv mit kulturspezifischen Aspekten des Performativen befasst haben, folgte eine Phase als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hannover (1995-1999), in der Sie zunehmend mit der Kunstform Theater in Berührung kamen. Inwiefern haben die Erfahrungen in der Hannoveraner Theaterlandschaft damals Ihr Verständnis des Performativen erweitert? Mit welchen Aspekten des Performativen haben Sie sich in Ihren Seminaren an der Universität Hannover intensiver auseinander gesetzt?
GH: Während meiner Zeit an der Universität Hannover war ich Mitglied in einem Arbeitskreis an der Medienabteilung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers zur Vorbereitung der Aktivitäten der Landeskirche im Kontext der EXPO 2000 (in Hannover). Damals bestand dort ein besonderes Interesse an performativen Medienereignissen. Zum Beispiel plante man ein Theaterfestival mit traditionellen Theatergruppen aus verschiedenen kulturellen Weltregionen, und eine Reihe von begleitenden wissenschaftlichen Konferenzen zu verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Theater und Religion. Ich selbst begann mich zu interessieren für das Verhältnis von theatraler Kunst und philosophischer Anthropologie, vor allem bei Nietzsche und Artaud, und für die Beziehungen von Theateranthropologie und avantgardistischen Formen von Theaterästhetik z.B. bei Schechner, Grotowski und Peter Brook. Zu solchen Themen bot ich auch eine Reihe von Seminaren an der Universität an; das Verbindende dieser sehr unterschiedlichen Autoren und ihrer Gedankenwelten war für mich die Betonung des Performativen bei der Gestaltung ihrer Ideen, also der Fokus auf die Flüchtigkeit, das Transitorische oder Initiatorische ihrer Manifestationen menschlich erlebter Wahrheit, sei es in Philosophie oder Performance Art. Ich erkannte darin eine Grundbedingung von Kreativität, also menschlich kreativen Handelns überhaupt.
Scenario: Seit 1999 vertreten Sie am University College Cork in Lehre und Forschung den Schwerpunkt Literaturwissenschaft. Nähern wir uns nun doch speziell der Literatur. Inwiefern spielt das Performative Ihrer Meinung nach in der Literatur eine Rolle? Nachdem John Austin, dessen Name mit der Wortneuschöpfung ‚performativ‘ assoziiert wird, in den 50er Jahren sein Werk ‚How to do things with words‘ veröffentlicht hatte, war in den Folgejahrzehnten immer häufiger davon die Rede, dass wir durch Sprache handeln. Lässt sich das Gleiche von der Literatur sagen? Handeln wir durch Literatur? Wenn ja, in welchem Sinne?
GH: Ja, Literatur ist Handeln. Literatur ist nicht ein toter Datensatz, gespeichert, als Druck, zwischen Buchdeckeln oder, als elektronischer Datensatz, in Computern. Literatur realisiert sich in Akten des Schreibens und Lesens, der ‚Sage‘ und Rezitation, in interpretierenden Auseinandersetzungen, gesprächsweise, oder in inspiriert gelebter persönlicher Deutung. Jeder „Sprechakt“ ist aber nicht nur im Sinne Austins und Searles ein Akt der Übertragung von Information und verhaltenssteuernden Impulsen, sondern ein Akt der realen Bedeutungsschöpfung, also von Weltschöpfung (im hermeneutischen Sinne, nicht nur von Bedeutung im Sinne der sozialen Rollenfunktion). Alle Sprache ist bedeutungskreative performance in diesem Sinne, Literatur unterscheidet sich hier nur insofern, als sie dieses kreative Moment auf emphatische und reflektierte Weise deutlich werden lässt.
Scenario: Die Bedeutung von ‚performativ‘ geht ja über das (Sprach-)Handeln hinaus und schließt z.B. den Aspekt Körperlichkeit mit ein. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Körperlichkeit und Literatur?
GH: Literatur als Weltdeutungsperformance ist per se kreativ. Das bedeutet aber auch, sie ist nicht einfach ein Instrument des Kognitiven. Literatur, wie alle (vor allem performative) Kunst, dient nicht der objektiven Erkenntnis, sondern der Deutung von lebensweltlicher Erfahrung. Sie schafft Konfigurationen möglicher Erfahrungswirklichkeiten, die in Wahrheit handlungsinspirierend sein können und, wie alle performance, kairotisch, anrührend und bewegend, aber eben auch flüchtig, vergänglich, ambik, täuschend und perspektivisch bleiben – im Gegensatz zur begrifflichen Solidität aller wissenschaftlichen Erkenntnis, die eine Illusion gesicherten Weltwissens vermittelt, aber die Wahrhaftigkeit unserer lebensweltlichen Erfahrung, insofern sie für uns wirklich Bedeutung erlangt, nicht widerzuspiegeln vermag.
Woher kommt diese Fragilität erlebter Wahrheit, die sich z.B. durch die Performativität des klassischen Theaters in ihren tragischen und komischen Verwerfungen so intensiv darstellen lässt?
Der menschliche Körper ist das Agens der Performance in künstlerischer Praxis; der menschliche Körper ist aber auch das Fundamental-Subjekt einer ganzheitlichen Weltwahrnehmung, die kontinuierlich Bedeutungen generiert – im Gegensatz zum wissenschaftlich isolierten Intellekt, der nur die Begriffe einer objektivierenden Welterkenntnis generiert, ohne dass darin die Welt als lebendiges Subjekt noch vorkäme. Körperlichkeit ist auch das Fundament der conditio humana, der menschlichen Welt-Offenheit als Ausgesetztheit an alle Arten schicksalhafter Widerfahrnisse in ihrer Fragilität und Endlichkeit. Im Künstlerischen zeigt sich diese Offenheit als Ausgesetztheit auch in der Literatur, als Kunst der Sprache: die Stimme ist das Resonanzphänomen der Welt in uns selbst als körperlichen Existenzen, und die Schrift ist die originäre Spur einer körperlichen Berührung von menschlich bewusstem Selbst und begegnender Welt. Wie sich diese Körperlichkeit nicht nur in den performativen Künsten, sondern auch in der Literatur widerspiegelt, ist heute vor allem das Thema meiner Arbeiten.
Scenario: Gibt es aus Ihrer Perspektive, abgesehen von den gerade besprochenen Aspekten Handeln und Körperlichkeit, noch andere charakteristische Merkmale des Performativen?
GH: Ich glaube, dass alle sozialen Aspekte des Performativen schon seit einiger Zeit Gegenstand verschiedener Disziplinen gewesen sind. Der Zusammenhang performativen und künstlerischen Handelns scheint mir besonders wichtig in allen Bereichen der Pädagogik. Hier wird deutlich, wie erzieherisches Handeln, und überhaupt der Prozess der Bildung, einen künstlerischen und ganzheitlichen Aspekt hat, den man sehr bewusst entwickeln sollte – ein Gedanke, der ja gerade in Scenario häufig diskutiert wird, und der mindestens seit Lessing und Schiller in der philosophischen Anthropologie der Aufklärung eine wesentliche Rolle spielt.
Scenario: Herr Prof. Hofmann, Sie haben im Laufe Ihrer akademischen Karriere an koreanischen, deutschen und irischen Universitäten gelehrt und geforscht. Es scheint, dass an Hochschulen ein eher problematisches Verständnis des Performativen vorherrscht, nämlich im Sinne von zählbarer Leistung, etwa in Form der Anzahl von Veröffentlichungen, die Hochschullehrende vorweisen können. In welcher Weise könnte Ihrer Meinung nach erreicht werden, dass in Zukunft Akzente verschoben werden und andere Aspekte des Performativen in Lehre und Forschung stärkere Berücksichtigung finden?
GH: Ich würde sagen, das hat mit der zunehmenden Marktorientierung und also Kommerzialisierung der Höheren Bildung zu tun. Besonders die Geisteswissenschaften und Humanities müssen sich heute beständig rechtfertigen im Hinblick auf den impact, also letztlich die ökonomische Verwertbarkeit, die Profitabilität ihrer Arbeit. Bildung wird nur noch im Sinne ihres Marktwerts, als Ware, betrachtet, nicht mehr als Selbstzweck, Menschenrecht und ultimatives menschliches Lebensziel. Eine solche Marktideologie, die heute gerade im Bildungsmanagement herrschend geworden ist, führt zu einer strukturellen Entmenschlichung von Bildungsprozessen, und zur ‚Kultivierung‘ einer „Kälte“ und Gleichgültigkeit bürgerlichen Bewusstseins, die geeignet ist, die kulturellen Errungenschaften von zweieinhalb tausend Jahren europäischer Aufklärungsgeschichte in wenigen Generationen zunichte zu machen. Gesellschaftliche Strukturen, vor allem im Bereich der Bildung, müssten eigentlich wirtschaftlichen Marktdynamiken, die destruktiv wirken, entgegenwirken – das ist der tiefere Sinn der Unabhängigkeit von Universitäten. Dieses Korrektiv scheint nicht mehr zu funktionieren. Die gravierendsten Probleme unserer Zeit – Umweltzerstörung, Klimaerwärmung, Migration – rühren vor allem daher, dass wir, in der sogenannten ‚zivilisierten‘ Welt, nicht nur die Menschen (besonders diejenigen, die wir als ‚anders‘ klassifizieren), sondern die Umwelt als Ganze nur noch als Gegenstand der Ausbeutung zu unserem eigenen wirtschaftlichen Vorteil zu sehen vermögen, aber nicht verstehen, dass wir damit die „Freiheitlichkeit“ unserer eigenen Lebensphilosophie untergraben.
Das zu ändern wäre eine Aufgabe der Bildung im Sinne unserer eigenen Aufklärungstradition. Die performativen und künstlerischen Aspekte darin hätten die Aufgabe, im Prozess dieser Bildung – egal in welchen Fächern, besonders aber natürlich in den Arts und Humanities – immer wieder auch ein Bewusstsein für die ganzheitliche Verantwortung unseres persönlichen Handelns und unseres In-der-Welt-Seins zu entwickeln.
Scenario: Unsere Zeitschrift SCENARIO versteht sich als Brückenbauerin zwischen den performativen Künsten und fremdsprachlichen Fächern. Warum sollten sich Ihrer Meinung nach Fremdsprachenvermittler speziell auch für die performativen Künste interessieren?
GH: Aus denselben Gründen. Nirgendwo zeigt sich deutlicher, wie wichtig das Bewusstsein für die Ganzheitlichkeit unseres Handelns und Verstehens ist, als beim Erlernen von Fremdsprachen. Wer Fremdsprachen nur technisch erlernt, als Werkzeug zum Austausch von Informationen, und nicht ganzheitlich, als menschliche Weise der Schöpfung und Realisation von sinnvollen Welt- und Lebensentwürfen, wird vielleicht irgendwann in der Lage sein, profitable Verträge mit fremdsprachigen Partnern auszuhandeln, aber er wird sich niemals menschlichen Begegnungen mit dem sprachlich Fremden öffnen können, die seinem Leben neue Bedeutung schenken können.