REZENSION

Wardetzky, Kristin (2019): Ankommen. Über die Lust an der narrativen Vermittlung von Sprache und Kultur. München: kopaed

Maik Walter

Jahrgang XIV, Ausgabe 1, 2020, doi:10.33178/scenario.14.1.11
© 2020, The Author(s). This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

In ihrem neuesten Buch schreibt Kristin Wardetzkys von der Wirkung eines Magneten, um die Faszination des Erzählens in einem sprachlichen Bild zu erfassen (44). Dieses Gleichnis geht auf Platon zurück und versucht die Anziehungskraft des Erzählvorgangs einzufangen. Zuhörende (und auch Zusehende) werden magisch durch das freie Erzählen von Geschichten angezogen (vgl. auch Wardetzky 2020). Da es in der Sphäre des gesprochenen Worts vollzogen wird, ist es schwer, diesen Zauber auch in der konträren Sphäre des geschriebenen Worts zu vermitteln.

Aber Kristin Wardetzky gelingt dies. Sie ist Theaterpädagogin, Erzählerin und war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Theaterpädagogik an der Universität der Künste (UdK) in Berlin, prägte in dieser Zeit maßgeblich das Fach und damit auch die Ausbildung von Theaterpädagog*innen. Sie etablierte das künstlerische Erzählen als einen Studienschwerpunkt an der UdK und gründete in Folge dort auch einen entsprechenden Zertifikatsstudiengang. In diesem Umfeld entstand in den letzten Jahren eine eigene (auch international) gut vernetzte Szene von professionellen Erzähler*innen (vgl. z.B. Hübsch & Wardetzky 2017).

Ankommen zeigt in überzeugender Weise, wie das performative Erzählen auch beim Erlernen einer Zweitsprache erfolgreich eingesetzt werden kann.

Adressiert ist das Buch an Lehrkräfte, Sprachwissenschaftler*innen und Narratolog*innen, denen das performative Erzählen sowohl als Vermittlungsweg vorgestellt als auch als Forschungsgegenstand erschlossen werden soll, der bislang kaum beachtet wurde (20).

Das performative Erzählen wird gefasst als eine „flüchtige Kunst […] gebunden an den Moment ihres Entstehens“, bei der – im Gegensatz zum Alltagserzählen – „multimodale künstlerisch-ästhetische Aspekte zur Geltung“ kommen (19). Es wird von Kristina Wardetzky als der Königsweg gesehen, „um Migrant*innen an die deutsche Sprache und Kultur heranzuführen“ (18).

Den Hintergrund ihrer Studie stellen die zahlreichen Aktivitäten der Autorin in Kindertagesstätten und Schulen dar, die sie seit vielen Jahren auch mit ihrem Verein Erzählkunst initiiert.

Ankommen besteht im Kern aus zwei Teilen: Nach einem einleitenden Vorspann, in dem Gegenstand und Zielgruppe erläutert werden, werden in Teil I Erzählprojekte in so genannten Willkommensklassen in Berliner Schulen vorgestellt. In Willkommensklassen werden geflüchtete Kinder und Jugendliche mit einem zweitsprachdidaktischen Fokus gefördert bzw. unterrichtet, bevor sie im Regelunterricht lernen können. In den Erzählprojekten kommen Erzähler*innen für nur wenige Unterrichtsstunden in eine solche Klasse, erzählen dort selbst und bewegen die Schüler*innen im Laufe der Zeit auch zum eigenen Erzählen in der Zweitsprache Deutsch. Anhand dieser Projekte werden sowohl ein umfassender Erfahrungsbericht als auch wichtige Reflexionen über das performative Erzählen vorgelegt. Dabei entsteht ein weitverzweigtes Geflecht aus Gedanken, praktischen Hinweisen und auch Erkenntnissen, um am Ende nichts weniger als die Bausteine einer Didaktik des performativen Erzählens in der Hand zu halten.

Der Teil II führt die von den Lerner*innen aus ihren Herkunftsländern mitgebrachten und in den Erzählprojekten produzierten Geschichten zusammen (80-101). Als Kategorien werden angegeben: Geschichten mit Parallelen in alten schriftlichen Quellen, Schwänke und Scherzgeschichten, Weisheits- und Belehrungsgeschichten, Märchen und märchenhaft-phantastische Geschichten sowie realitätsnahe und realistische Geschichten. Das Besondere an dieser Sammlung ist die Perspektive auf das Erzählen und die Geschichten: Nicht ein defizitärer Blick auf Lernprozesse prägt die Haltung des Berichts, sondern die Fokussierung auf die kulturellen Ressourcen, die in die Gesellschaft eingebracht werden. „Integration ist keine Einbahnstraße.“ (111)

Am Ende werden ausgewählte „Erzählprojekte mit erwachsenen Geflüchteten und in Krisengebieten“ (102-110) dargestellt und damit gezeigt, dass Erzählen in vielen Altersstufen geeignet ist, um eine fremde Sprache und auch Kultur zu erfahren. Die drei vorgestellten Projekte mit Asylbewerber*innen fanden in Galway (Irland), in Südengland und in Berlin statt. In einem Projekt erzählen Erzähler*innen in Flüchtlingscamps in Afghanistan, Iran, Irak, Palästina, Syrien, Libanon und Ägypten.

Kristin Wardetzky ist eine der bekanntesten Vertreter*innen sowohl der Märchenforschung als auch der Märchendidaktik. Deshalb bekommen Leser*innen im Buch nicht nur praktische Tipps, sondern auch ein fundiertes Hintergrundwissen. So gibt es beispielsweise den Hinweis, dass Zaubermärchen eine ausgesprochen gut einzusetzende Gruppe von Texten darstellen. Solche Art von Empfehlungen gibt es in den meisten didaktischen Handreichungen. In Ankommen bekommt man zudem die grundlegende Struktur der Textsorte – in diesem Fall die Zaubermärchen - erklärt und darüber hinaus eine erfahrungs- und forschungsliteraturgesättigte Reflexion von Gründen, warum sie im Zweitsprachenkontext sinnvoll eingesetzt werden können.

Hervorzuheben ist die Gestaltung von Ankommen: Das schmale Bändchen zeigt auf 18 Seiten beeindruckende Fotografien von Dietmar Lenz und Constanze König aus den vorgestellten Erzählprojekten sowie 12 Seiten mit farbigen Zeichnungen der Kinder, die von der Autorin psychologisch analysiert und damit auch für Leser*innen erschlossen werden. Beides erlaubt einen vertieften Einblick in das performative Arbeiten und dessen Wirksamkeit. Mögliche Effekte des Erzählens werden in der Interpretation der Zeichnungen und Geschichten benannt. Dies könnte der Ausgangspunkt für eine empirisch angelegte Wirkungsstudie sein, um die beschriebenen positiven Effekte des Erzählens nachzuweisen. Kristin Wardetzky hat der Zweitspracherwerbsforschung einen Forschungsgegenstand auf einem Tablett serviert, nun heißt es hier zuzugreifen und weitere Fragen zu stellen, die aufgeworfenen Hypothesen empirisch zu testen und theoretische Begründungen zu finden. Aber nicht nur die Forschung wird aus dem Buch Erkenntnisse ziehen können. Auch mit Blick auf eine innovative Unterrichtspraxis (vgl. dazu aktuell Conesa 2020) kann man das Buch mit großem Gewinn lesen: Das Fundament einer Didaktik des performativen Erzählens im Kontext des Zweitspracherwerbs ist mit Ankommen gelegt. Nun kann man darauf aufbauend einen nächsten Schritt gehen und konkrete Unterrichtseinheiten skizzieren, wie beispielsweise Maike Plath (z.B. 2011) dies mit ihren Praxismaterialien in den letzten Jahren erfolgreich demonstriert hat. In ähnlicher Weise könnten von der performativen Kunst des Erzählens wertvolle Impulse für die Unterrichtspraxis ausgehen. Auch wenn eine Lehrperson keine intensive Ausbildung in den performativen Künsten machen konnte, wird sie durch diese Publikation ermutigt, das Erzählen im Unterricht zu erproben und darauf hinzuwirken, dass es fest im Fremdsprachencurriculum verankert wird.

Bibliografie

Conesa, Freya (2020): Erzählen als performative Kunst im Unterricht. In: Fremdsprache Deutsch 62, 1-8, online verfügbar unter https://www.fremdsprachedeutschdigital.de/ce/fremdsprache-deutsch-ausgabe-62-2020/ausgabe.html [zuletzt aufgerufen am 7.6.2020]

Hübsch, Nikola & Wardetzky, Kristin (Hg.) (2017): Zeit für Geschichten. Erzählen in der kulturellen Bildung. Symposium Erzählen und kulturelle Bildung - Modelle, Konzepte, Utopien; Symposium Erzählen in Zeiten kultureller Vielfalt - Modelle, Konzepte, Utopien. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren

Plath, Maike (2011): Freeze & Blick ins Publikum! Das Methoden-Repertoire für Darstellendes Spiel und Theaterunterricht. Weinheim, Basel: Beltz

Wardetzky, Kristin (2020): Der Magnetstein. In: Fremdsprache Deutsch 62, 13-19

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