Niederlage, mit Folgen
Ein paar Jahre lang hatte die Theatergruppe in unserer Schule in West-Berlin zwei Protagonisten, die, gleich begabt, sich auch noch auf ideale Weise ergänzten. Klaus Hoffmann war blond und sommersprossig, sein Gesicht quadratisch und oft durch ein breites, schmallippiges, verschmitztes Grinsen gezeichnet. Seine untersetzte Figur schien wie ein Magnet auf seine Arme zu wirken: nur die notwendigsten, markantesten Gesten konnten sich davon lösen. Auf der Bühne strahlte er Autorität aus, vor allem dank seiner größten Gabe, einem eindrucksvollen Bass, warm, sandig, nicht ohne Schärfe und wohlkontrolliert. Eine Stimme aber ist nur das Eine, man muss auch etwas damit anzufangen wissen, und Klaus besaß sowohl Intelligenz als auch natürliche, geistige Reife – eigentlich konnte man ihn sich nur vorstellen als von Geburt an würdevoll und gereift, und falls er als Baby je geschrien haben sollte, dann sicherlich in beruhigenden Basslauten.
Ihn somit einigermaßen detalliert vorgestellt zu haben, erspart mir die Peinlichkeit, die andere Säule unserer Gruppe, nämlich mich selbst, zu beschreiben; mir bleibt eigentlich nur zu sagen, dass ich in fast jeder Hinsicht sein völliges Gegenteil war: dunkelhaarig, emotionsgeladen, gestenreich. Und auf natürliche Weise unreif. Kein Wunder, dass wir immer wieder als Gegenspieler eingesetzt wurden, typischerweise in Vater/Sohn-Situationen, was nicht ohne Ironie war, denn Klaus war mindestens ein Jahr jünger als ich. Es hätte wohl kaum eine Rolle gegeben, wo ein Regisseur bei der Besetzung zwischen uns beiden geschwankt hätte. Und doch waren wir einmal in ein Duell verwickelt, in dem es um Kopf und Stimme ging und, überaschenderweise, sogar ums Leben.
Unsere Gruppe war auch verantwortlich für regelmäßig in der Aula stattfindende, literarische Morgenfeiern; die Texte stammten meist von Hermann Hesse, nach dem die Schule benannt war. In der Regel wurden die Texte uns zugeteilt und wir akzeptierten sie stillschweigend, aber bei dieser Gelegenheit sollte Klaus ein Gedicht lesen, an dem mir viel lag, und ich machte das deutlich. Kein Problem, hieß es, bei unserer nächsten Probe sollten Klaus und ich jeder das Gedicht vortragen, und dann würde die Gruppe entscheiden. Prima – ich fühlte, ich hatte schon halb gewonnen.
Das Gedicht, von Hermann Hesse, hieß ‘Müßige Gedanken’, aber, wie so oft wenn etwas als ‘müßig’ bezeichnet wird, waren sie es durchaus nicht. Im Jahr 1940 entstanden, drücken die Verse Hesses Entsetzen und Abscheu aus gegenüber diesem neuen europäischen Krieg. Jede der vier Strophen zeigt eine andere Grundstimmung: Die erste prophezeit den ‘töricht genialen’ Kriegen ein radikales Ende, wenn auf diesem Planeten nur noch die Natur zurückbleibt, die menschliche Geschichte aber, ja die Menschheit selber, ausgelöscht und vergessen sein werden. Vergessen aber werden auch all die kostbaren Dinge sein: Kinderspiele, Sprachen, Musik, alles ‘was unser Lieben rings der willigen Erde eingeschrieben’ hat. ‘Die Erde hat kein Licht mehr’ ist das Resümee. Die letzte Strophe aber bringt den Schöpfer herein, der dem ‘Untergange all des Scheußlichen und all des Schönen stille zugeschaut’ hatte und nun lange die ‘befreite Erde’ betrachtet: ‘Dunkel schwebt die kleine Kugel im Gefunkel. Sinnend greift er etwas Lehm und knetet…’
Ich muss damals etwa 18 Jahre alt gewesen sein, und das Gedicht drückte meine eigenen Gefühle gegenüber der unvollkommenen Spezies aus, zu der ich nun einmal gehörte – Gefühle, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Mitleid und Verachtung schwankten. Auch hegte ich die ersten Zweifel am Wohlwollen des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung, die erste Ahnung seiner völligen Gleichgültigkeit. Aber die wahre Befriedigung lag nicht darin, meine eigenen, reichlich vagen, Gefühle ausgedrückt zu finden, sondern in der Schönheit, mit der sie ausgedrückt waren: die grimmige Festigkeit der Aussagen, die Wehmut, die über dem Ganzen lag, das komplexe aber ganz ungezwungene Reimschema. Kurz: ich war von einem Kunstwerk getroffen worden. Hier war ein Gefäß, in das ich meine eigene Formlosigkeit gießen konnte. Und so bereitete ich mich sorgfältig auf unseren Zweikampf vor, im Innern durchaus zuversichtlich.
Nur dass von Kampf dann kaum die Rede sein konnte. Ich legte in meine Lesung alles, was ich in mir hatte – und das war zuviel. Klaus gab die ruhige, gemessene Präsentation eines Nachrichtensprechers, die ich erwartet hatte und die ich unterlaufen wollte. Die Gruppe stimmte eindeutig für ihn und, um ehrlich zu sein – ich konnte nichts dagegen sagen. Seine Interpretation – wenn es denn eine war – war objektiv, und Objektivität, in Dingen der Kunst, ist eine unbestreitbare Qualität.
Nichtsdestoweniger – ich war der Unterlegene, und zwar da, wo es für mich zählte, und fühlte mich dementsprechend. Aber seltsamerweise nicht geschwächt, nicht entmutigt. Im Gegenteil: ein überraschend nährender, zukunftsorientierter Trotz erhob sich aus meinem Versagen, eine Gewissheit, dass ich etwas gefunden hatte, was mir die größte Befriedigung und meinem Leben vielleicht sogar eine Richtung gab. Oder hatte es mich gefunden? War es vielleicht sogar eine Berufung? Wenn ja, eine ganz kleine, kein Grund zur Einbildung. Aber es konnte keine Rede davon sein, meine Entdeckung wieder entgleiten zu lassen. Ich setzte fort, was mir, wieder und wieder, das Glück und das Abenteuer der Selbsterweiterung bescherte, den Dienst am Wort, dem dichterischen Wort, mit den begrenzten Mitteln, die mir zur Verfügung stehen – Stimme, Einsicht, Vorstellungsvermögen. Gedichte und Geschichten zu lesen und vorzutragen wurde zum roten Faden, der durch mein gesamtes Leben lief und es vielleicht sogar vor dem Auseinanderfallen bewahrt hat. Das Knäuel Schnur, das mir jetzt noch in den Händen liegt, ist nicht mehr groß, aber wenn ich den Faden wieder aufwickeln könnte, würde er mich zurück durch den ganzen Irrgarten meines Lebens führen, durch all die Räume, in denen ich mein Wort-Werk betrieben habe – Bühnen aller Größen, Studios aller Arten, Aulen und Auditorien, Klubs und Pubs, Schlaf- und Klassenzimmer, die Folterkammer des Übersetzers und den stillen Hallraum, in dem sich der Poet aufhält. Der Faden half mir sogar, über die Kluft zwischen zwei Ländern, zwei Kulturen, zwei Sprachen zu kommen. Und wenn ich ihm ganz zurück folgen wollte, bis dahin, wo alles began, würde ich zum Eingang meines Lebenslabyrinths gelangen und den Faden dort um einen aufrecht stehenden Stein geschlungen finden – Denkmal einer wohl notwendigen Niederlage anlässlich einiger alles andere als müßiger Gedanken.
Aus:
Peter Jankowsky (2000): Myself Passing By. A Memoir in Moments. Dublin: New Island, 53-56. Deutsche Fassung: Peter Jankowsky, 2008.