TuT – Texte ums Theater – TuT

Der Grüne Heinrich

Gottfried Keller

Jahrgang III, Ausgabe 1, 2009, doi:10.33178/scenario.3.1.1
© 2009, The Author(s). This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Zusammenfassung

Der Weg zur Literatur, z.B. zu Schillers Werken, ist nicht notwendigerweise für alle derselbe; diese Einsicht, die einer stärkeren Umsetzung in methodisch-phantasievolles Handeln bedarf, ist in der Literatur selbst zu finden. Im folgenden Auszug aus Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich erinnert sich der Erzähler an seinen Vater und dessen Freunde:

Der Grüne Heinrich

„Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkt aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes, bescheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im Schlafrock; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen, und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizer Städten nicht die Rede war, so entschlossen sich sich ... kurz und spielten selbst Komödie, so gut sie konnten. Die Bühne und die Maschinen waren freilich schneller und gründlicher hergestellt, als die Rollen erlernt wurden, und mancher suchte sich über den Umfang seiner Aufgabe selbst zu täuschen, indem er mit vergrößerter Kraft Nägel einschlug und Latten entzweisägte; doch ist es nicht zu leugnen, daß ein großer Teil der Gewandtheit im Ausdruck und des äußern Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist, auf Rechnung solcher Übungen gesetzt werden darf.“

Aus:
Keller, Gottfried (1986): Der Grüne Heinrich. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 18-19

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