Ein Käfig im Berliner Zoo wird zur Bühne, der sich darin hin und her bewegende Löwe zu einem außergewöhnlich eindrucksvollen Akteur. Robert Walser, der diesen Text vor hundert Jahren schrieb, ist fasziniert vom Spiel des Tieres mit dem Publikum, insbesondere von seiner mächtigen Präsenz. Der Text lässt sich über das folgende Zitat aus Erika Fischer-Lichtes ‘Ästhetik des Performativen’ auf den Schwerpunkt dieser Ausgabe beziehen:
„Präsenz ist keine expressive, sondern eine rein performative Qualität. Sie wird durch spezifische Prozesse der Verkörperung erzeugt, mit denen der Darsteller seinen phänomenalen Leib als einen raumbeherrschenden und die Aufmerksamkeit des Zuschauers erzwingenden hervorbringt.“
Sehr interessant ist der abessynische Löwe im Zoologischen Garten. Er spielt Tragödie, und zwar auf die Weise, daß er zugleich schmachtet und rund wird. Er verzweifelt (namenlose Verzweiflung) und hält sich zugleich hübsch fett. Er gedeiht und quält sich zugleich langsam zu Tode. Und dies vor den Augen eines zuschauenden Publikums. Ich selbst habe vor seinem Käfig sehr lange gestanden, habe meine Augen gar nicht abwenden können vom Königsdrama. Hier übrigens eine Nebenbemerkung: ich möchte meinen Beruf wechseln, wenn das rasch und leicht ginge. Ich würde mich am eingesperrten Löwen satt malen können. Hat der verehrte literarische Leser schon so recht aufmerksam ein Elefantenauge angeschaut? Das sprüht von Vorwelthoheit. Doch horch! Was brüllt da? Ah, es ist unser Dramatiker. Er ist sein eigener Dichter und sein eigener Spieler. Obwohl er manchmal ganz fassungslos scheint, verliert er nie die Fassung, denn die Würde ist ihm angeboren. Also Würde und zugleich Wildheit. Man denke sich das: wie schön, wie groß das ist, wenn er schläft. Aber wir wollen ihn sehen, wenn er die Fütterungsstunde wittert. Da sinkt er zum ungeduldigen Kind herab, verliebt in die Vorstellung des herannahenden Fraßes. Da hat er dann wenigsten etwas zu tun, er kann frisches Fleisch zerreißen. Er kann so recht fressen. Wie solch ein eingesperrtes Tier den Wärter merkwürdig kennen, ganz gewiß auch auf so eine Art – lieben muß. In der Ruhe, wie göttlich ist er da. Er scheint sich zu härmen; er scheint ganz bestimmte Gedanken zu haben, und ich möchte schwören, er sei in schöne, in erhabene Gedanken versunken. Hast du dich von ihm schon einmal anschauen lassen? Versuch es, und lenke einmal seinen Blick auf dich. Er hat einen Götterblick. Aber wie ist er erst dann, wenn er unruhig, seine Fürstenkraft an die Käfigwände schmiegend, im Gefangenenzimmer hin und her geht. Immer hin und her. Hin und her. Stundenlang. Welch eine Szene! Hin und her, und der mächtige Schweif peitscht den Boden. (1910)
Aus:
Robert Walser: Berlin gibt immer den Ton an. Frankfurt a.M. und Leipzig: Suhrkamp/Insel, 2006
[1] Erika Fischer-Lichte (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 165