TuT – Texte ums Theater – TuT

Pole Poppenspäler

Theodor Storm

Jahrgang IV, Ausgabe 2, 2010, doi:10.33178/scenario.4.2.1
© 2010, The Author(s). This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Zusammenfassung

Theodor Storms 1874 veröffentlichte Novelle Pole Poppenspäler ist eine rührende Kindergeschichte. Der kleine Paul erlebt in seinem Dorf die Aufführung eines Puppentheaters. Er ist von den Marionetten fasziniert und bleibt von ihnen magnetisch angezogen. Durch seine Freundschaft mit Lisei, der etwa gleichaltrigen Tochter der wandernden Puppenspieler, wird ihm heimlich der Zugang zu den Marionetten ermöglicht. Obwohl Lisei ihn anfleht die Marionetten nicht zu berühren, kann er nicht widerstehen und zieht an den Drähten der Kasperle-Figur. Beim intensiven Spiel kracht es plötzlich im Innern der Figur. Paul plagt nun sein schlechtes Gewissen und mit ängstlicher Erwartung geht er am nächsten Tag in die Aufführung von FAUST, in der Kasperle eine zentrale Rolle spielen wird. Aber nicht nur der kleine Paul als Zuschauer steht unter großer Spannung, sondern auch Liseis Eltern, denn von ihrem Improvisationsgeschick als Puppenspieler wird es abhängen, ob sich der Schaden in Grenzen halten lässt und der Theaterabend trotz allem gelingen kann.

Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute, am Sonntagabend, alles besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf Schuh hoch über dem Fußboden, auf dem Doppeltschillingsplatze. Die Talglichter brannten in den Blechlampetten, der Stadtmusicus und seine Gesellen fiedelten; der Vorhang rollte in die Höhe.
Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen Folianten sass im langen schwarzen Talare der Doktor Faust und klagte bitter, dass ihm all seine Gelehrsamkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe, und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er den jetzo mit der Hölle sich verbinden. – „Wer ruft nach mir?“ ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme von der Wölbung des Gemaches herab. – „Faust, Faust, folge nicht!“ kam eine andere feine Stimme von der Rechten. – Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. – „Weh, weh deiner armen Seele!“ Wie ein seufzender Windeshauch klang es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende Lache durchs Gemach. – Da klopfte es an die Tür. „Verzeihung, Eure Magnifizenz!“ Fausts Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehülfen zu gestatten, damit er sich besser aufs Studieren legen könne. „Es hat sich“, sagte er, „ein junger Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heisst und gar fürtreffliche Qualitäten zu besitzen scheint.“ – Faust nickte gnädig mit dem Kopfe und sagte: „Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei Euch gewährt.“ Dann gingen beide miteinander fort. -
„Pardauz!“ rief es; und da war er. Mit einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, dass ihm das Felleisen auf dem Buckel hüpfte.
- „Gott sei gelobt!“ dachte ich; „er ist noch ganz gesund; er springt noch ebenso wie vorigen Sonntag in der Burg der schönen Genoveva!“ Und seltsam, so sehr ich ihn am Vormittage in meinen Gedanken nur für eine schmähliche Holzpuppe erklärt hatte, mit seinem ersten Worte war der ganze Zauber wieder da.
Emsig spazierte er im Zimmer auf und ab. „Wenn mich jetzt mein Vater Papa sehen tät“, rief er, „der würd’ sich was Rechts freuen. Immer pflegt er zu sagen: Kasperl, mach, dass du dein Sach in Schwung bringst! – O, jetzund hab ich’s in Schwung; denn ich kann mein Sach haushoch werfen!“ – Damit machte er Miene, sein Felleisen in die Höhe zu schleudern; und es flog auch wirklich, da es am Draht gezogen wurde, bis an die Deckenwölbung hinauf; aber – Kasperles Arme warn an seinem Leibe kleben geblieben; es ruckte und ruckte, aber sie kamen um keine Handbreit in die Höhe.
Kasperl sprach und tat nichts weiter. – Hinter der Bühne entstand eine Unruhe, man hörte leise aber heftig sprechen, der Fortgang des Stückes war augenscheinlich unterbrochen.
Mir stand das Herz still; da hatten wir die Bescherung! Ich wäre gern fortgelaufen, aber ich schämte mich. Und wenn gar dem Lisei meinetwegen etwas geschähe!
Da begann Kasperl auf der Bühne plötzlich ein klägliches Geheule, wobei ihm Kopf und Arme schlaff herunterhingen, und der Famulus Wagner erschien wieder und fragte ihn, warum er denn so lamentiere.
„Ach, mei Zahnerl, mei Zahnerl!“ schrie Kasperl.
„Guter Freund“, sagte Wagner, „so lass Er sich einmal in das Maul sehen!“ – Als er ihn hierauf bei der grossen Nase packte und ihm zwischen die Kinnläden hineinschaute, trat auch Doktor Faust wieder in das Zimmer. – „Verzeihen Eure Magnifizenz“, sagte Wagner, „ich werde diesen jungen Mann in meinem Dienst nicht gebrauchen können; er muss sofort in das Lazarett geschafft werden!“
„Is das a Wirtshaus?“ fragte Kasperle.
„Nein, guter Freund“, erwiderte Wagner, „das ist ein Schlachthaus. Man wird Ihm dort einen Weisheitszahn aus der Haut schneiden, und dann wird Er seiner Schmerzen ledig sein.“
„Ach, du liebs Herrgottl“, jammerte Kasperl, „muss mi arms Viecherl so ein Unglück treffen! Ein Weisheitszahnerl, sagt Ihr, Herr Famulus? Das hat noch keiner in der Familie gehabt! Da geht’s wohl auch mit meiner Kasperlschaft zu End?“
„Allerdings, mein Freund“, sagte Wagner; „eines Dieners mit Weisheitszähnen bin ich bass entraten; die Dinger sind nur für uns gelehrte Leute. Aber Er hat ja noch einen Bruderssohn, der sich auch bei mir zum Dienst gemeldet hat. Vielleicht“, und er wandte sich gegen den Doktor Faust, „erlauben Eure Magnifizenz!“
Der Doktor Faust machte eine würdige Drehung mit dem Kopfe.
„Tut, was Euch beliebt, mein lieber Wagner“, sagte er; „aber stört mich nicht weiter mit Euren Lappalien in meinem Studium der Magie!“
„Heere, mei Gutester“, sagte ein Schneidergesell, der vor mir auf der Brüstung lehnte, zu seinem Nachbar, „das geheert ja nicht zum Stück, ich kenn’s, ich hab es vor ä Weilchen erst in Seifersdorf gesehn.“ – Der andere aber sagte nur: „Halt’s Maul, Leipziger!“ und gab ihm einen Rippenstoss.
Auf der Bühne war indes Kasperle, der zweite, aufgetreten. Er hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem kranken Onkel, auch sprach er ganz genau wie dieser; nur fehlte ihm der bewegliche Daumen, und in seiner grossen Nase schien er kein Gelenk zu haben.
Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, als das Stück nun ruhig weiterspielte, und bald hatte ich alles um mich her vergessen. Der teuflische Mephistopheles erschien in seinem feuerfarbenen Mantel, das Hörnchen vor der Stirn, und Faust unterzeichnete mit seinem Blute den höllischen Vertrag:
„Vierundzwanzig Jahre sollst du mir dienen; dann will ich dein mit Leib und Seele.“
Hierauf fuhren beide in des Teufels Zaubermantel durch die Luft davon.

Aus: Theodor Storm: Pole Poppenspäler. Zürich: Verein Gute Schriften (1964), 24-27

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