In dieser Rubrik Texte ums Theater stellen wir historische und zeitgenössische, kulturübergreifende bzw. -spezifische, unvermutet schräge, ungewöhnlich spannende, verstörend mitreißende, faszinierend schillernde etc. Perspektiven aufs Theater vor.
Kasernenmäßig knallten die Pultdeckel hoch zum Gruß, als Goldbrille Marc vorstellte. Der cisalpine Schulgeist hatte die jungen Südländer bereits im Griff. Dreimal sagte der Direktor in den drei oberen Klassen aufs Wort dasselbe und schloss suggestiv verpflichtend: "Ich weiß, keiner wird den neuen Lehrer enttäuschen."
Mit einem Kloß im Hals stand Marc vor seinen ersten Schülern und brachte kein Wort heraus. Die Jungs und Mädchen taten ihm leid. Statt eines Raums mit großem Tisch, an dem Talent und Neigung sich öffnen, die Jahrgänge sich mischen, man sich gegenseitig hilft, nur eng gepferchte, am Boden festgeschraubte Eichenbänke, die beim Einsitzen zum Seitwärtsgehen zwingen. Alles war auf den Lehrer ausgerichtet, unmöglich, hier einen hierarchiefreien Raum zu schaffen.
Marc zog den"Jena-Plan" von Peter Petersen1, wie er ihn 1927 dem Weltbund für Erneuerung und Erziehung in Locarno vorgelegt hatte, aus der Jacke, drückte ihn dem verwunderten Direktor in die Hand und bat um ein Gespräch mit ihm und den Kollegen.
"Räumen wir wenigstens die Bänke weg", beschwor Marc nach erfolgloser Diskussion den Vertreter des Circolo Svizzero und die Kollegen, sah aber nur Schreck und Spott in ihren Augen. Schreck vor dem Improvisieren, das ein Unterricht mit losem Stundenplan verlangt, Spott über die Zumutung, mit Schülern um den gleichen Tisch zu sitzen.
"Kein Dummkopf, dieser Petersen, doch ists nicht drin in meinem Budget", wand sich Direktor Trösch.
"Ein Schulbasar mit Tombola!", kamen die Junglehrerinnen Marc zu Hilfe.
"Jetzt nicht, nicht jetzt, zur Weihnachtszeit vielleicht", winkte Goldbrille lächelnd ab.
"Zu keiner Zeit, auch nicht zur Weihnachtszeit", brach Alma ihr Schweigen, "Sachkompetenz zu fördern sind wir hier, nicht Selbst- und Sozialkompetenz."
Sie hatte Petersen verstanden und legte sich mit ganzer Seele quer. "Wir leben in einer Ellenbogengesellschaft, junger Mann. Was diesen Petersen und seinesgleichen einen Teufel schert, ich kenn den Kram: "Der Mensch wird gut geboren, die Umwelt verdirbt ihn." Die Eltern lassen sich unsere realitätsnahe Erziehung was kosten, sonst brächten sie die Kinder in die öffentlichen Schulen in Florenz."
Marc hasste ihre Absolutheit mehr als ihre Zweckgesinnung. Sie macht uns alle zu Stehgeigern der Betuchten, dachte er. Sich selbst hasste er am meisten, weil er es nicht sagte.
Zu seinem Antrag abzustimmen schwiegen die Kollegen.
Lauter Bilderbuchdemokraten, fehlt nur noch der Gesslerhut, und alle liegen auf den Knien. Der Zorn trieb Marc das Blut zu Kopf. Gleichmütig wollte er wirken, doch seine Wangen brannten sichtbar rot, und der Respekt, den er der Alten zu zollen nicht umhin konnte, brachte ihn fast um. Es blieb alles wie gehabt. Er war kein Tell.
... zum Einstand die totale Pleite ... die Schwerkraft hat mich wieder ... ich soll kaspern ... französisch pauken ... Turnprogramme drillen ... aus dem Schulbuch büffeln lassen ... Mathematik...irreguläre Verben ... vielleicht gehts mit Theater ... nicht Seelenfasching à la Klosterschule ... nicht Zuckerbrot für ein Jahr Schulfron ... nein, fiktive Wirklichkeit ... die Schüler vertauschen ihr Schulverhalten mit Personen im Stück ... machen deren Gefühle, Beziehungen und Konflikte zu ihrer Sache ... natürlich auf Französisch ... man kann nicht spielen, was man nicht versteht ... das dauert Monate ... ein halbes Jahr ... vielleicht ein ganzes ... dann stehen nicht Noten, dann stehen sie selbst da ...
Es funktionierte.
Satz für Satz ins Stück hinein war weniger beschwerlich als spannend. Das Rolleninteresse überwand die Flauten. Die Eitelkeit, nie erlahmender menschlicher Motor, zog den Karren aus jeder Niederung. Raumfragen wurden Nebensache. Mal wars die Palestra, mal die Klasse. Mal der Musiksaal, mal der Pausenhof.
"Methodisch nicht uninteressant", meinte der Direktor, "vorausgesetzt, das Jahrespensum leidet nicht."
Alma, von der unnachgiebigsten Art, ließ unbeeindruckt das Monokel kreisen.
From: Max Peter Ammann (2011): Die Gottfriedkinder. Zürich: Rotpunktverlag, 309-311, © Rotpunktverlag