OHNE PANZERHEMD DER GEWOHNHEITEN

Authors

  • Simone Hein-Khatib

DOI:

https://doi.org/10.33178/scenario.10.1.6

Abstract

Während ich über Stimmen und ihre Wirkung auf mich nachdenke, fällt mir auf, dass ich mich vor allem an Stimmen erinnere, die Arabisch oder Tschechisch sprechen. „Der Oktober neigt sich dem Ende zu. Es ist Freitag, am frühen Abend. Pavel und ich sind auf dem Weg von Sušice nach Ústí nad Labem – knapp 250 km vom Fuße des Böhmerwaldes in den Nordwesten Tschechiens. Die Hügel, Wälder und Sträucherreihen, die am Autofenster vorbeiziehen, sind in der Abenddämmerung nur mehr schemenhaft zu erkennen. Meine Gedanken hängen im Karussell des Ungelösten und Unerledigten fest. Pavel stellt das Navigationsgerät an, das er vor kurzem von seinem Vater geschenkt bekommen hat. Er spielt mir einige Stimmen vor, weibliche und männliche, manche sprechen Tschechisch, andere klingen, als ob Deutschsprachige tschechische Wörter ablesen, ohne je zuvor mit der tschechischen Lautung in Berührung gekommen zu sein. Bei keiner der Stimmen kann ich mir ein menschliches Gesicht dazu vorstellen. Am unerträglichsten sind die monotonen Computerstimmen. Dann erklingt plötzlich eine Stimme, die nichts mit den vorherigen gemein hat. Sie spricht das gleiche begrenzte Repertoire an Einzelwörtern und Wendungen wie die Stimmen zuvor: „doprava“ (nach rechts), „za t?i sta metr? sje?te“ (fahren Sie nach dreihundert Metern ab), „te? sje?te“ (fahren ...

Published

2016-01-01

Issue

Section

Essays